menschen treffend: rosi

Normalerweise hätte sie zumindest eine Baumwolltasche dabeigehabt, am Rücksitz oder im Kofferraum, aber heute nicht. Sie hatte sich also ein Papiersackerl an der Hofer-Kassa genommen, mit etwas schlechtem Gewissen zwar, aber sie wusste, dass sie eine angemessene Nachnutzung gefunden hätte, nachdem sie ihre Einkäufe nachhause gebracht hätte. Aber eigentlich verwendet sie nur noch diese Baumwolltaschen. Das hat sie jetzt davon. Beim Herausheben des Papiersackerls aus dem Einkaufswagen ist es sofort gerissen, die Einkäufe haben sich vor ihr auf den Hofer-Parkplatz verteilt. Bananen, Bio-Äpfel, Schokokekse, Mozzarella und Parmesan, Bio-Butter und Joghurt. Irgendwas musste das Papiersackerl nass und dadurch rissig gemacht haben. Sie konnte alles wieder einsammeln, nur die Joghurtbecher waren zerplatzt, der Joghurt befleckt den Parkplatz-Asphalt, darauf blickt sie. So steht sie nun da, Rosi, und sie kann ihre Tränen nicht verstecken. Ein Mann will ihr helfen und sagt ihr, dass es nicht so schlimm sei, es gäbe sicher noch unzählige Joghurtbecher in dieser Filiale, aber das bringt sie nur noch mehr zu weinen. Er versteht nicht, niemand würde verstehen, was gerade in ihr abläuft, auf diesen Joghurtfleck starrend. 

Vor ein paar Jahren hatte Rosi beobachtet, wie ein Asylwerber seine Einkäufe nach Hause trug und ihm beim Überqueren der Strasse ein Becher Joghurt runterfiel, der auf dem Boden zerplatzte. Der Asylwerber, Mohammad hieß er, wie sie damals dann erfuhr, hatte sich hinuntergebeugt und mit seinen Fingern das zerlaufende Joghurt am Gehsteig zu essen versucht. Er wollte es nicht verschwenden. Sie hatte das damals absolut herzzerreissend gefunden und unwürdig, ungläubig hatte sie ihm zugeschaut. Bis sie ihm dann schließlich fünf Euro in die Hand gedrückt hatte, verbunden mit der Bitte, dass er das Joghurt doch einfach liegenlassen sollte, den Becher schmiss sie eigenhändig in den nahegelegenen Mistkübel. Die beiden hatten ein paar stammelnde Worte gewechselt, dann konnte Mohammad den Fünf-Euro-Schein annehmen und war weitergegangen. Seither ist ihr diese Szene nicht mehr aus dem Kopf gegangen, die nun wieder vor ihren Augen abläuft. 

Sie hatte es damals nicht glauben können, dass in ihrer Stadt, in ihrem Land Menschen leben, denen es so schlecht geht, dass sie kaputte Lebensmittel vom Boden essen. 

Sie begann sich ehrenamtlich zu engagieren und sich dabei jenen anzunehmen, die von der Gesellschaft nicht aufgefangen wurden. 

Rosi selbst war relativ gut aufgewachsen, ihre Familie war nie wirklich reich gewesen, aber ihnen fehlte eigentlich nichts. Sie hatten in ihrem eigenen Haus gelebt, hatten immer auf Urlaub fahren können, beim Einkaufen wurde zwar auf den Preis geachtet, aber es gab kaum etwas, das sie sich nicht leisten konnten, wenn sie wollten. Rosi hatte als erste in der Familie studieren dürfen, fand anschließend eine gut bezahlte Arbeit in einer international tätigen Werbefirma, bereiste die Welt, heiratete, zog zwei Kinder groß, stieg in ihrer Firma zur Abteilungsleiterin auf, wurde geachtet, verlor ihre Arbeit dann aber mit Ende Vierzig, machte sich als Motivations-Trainerin selbstständig, war darin erfolgreich, ließ sich von ihrem Mann mit Anfang Fünfzig Scheiden, erbte das Elternhaus, nachdem ihre Eltern knapp nacheinander starben, zog zurück in ihr Heimatdorf, entschloss sich weniger zu arbeiten und ihr Leben zu genießen, fing also nochmal neu an. Sie ging gerne ins Kino und manchmal auch ins Theater, besuchte Ausstellungen, ging regelmäßig schwimmen, verreiste immer wieder, auch spontan. Sie fand Freundinnen, die ihre Leidenschaften teilten. Sie hatte genug zum Leben und mit Mitte Fünfzig auch einen kleinen finanziellen Polster am Konto. Dann passierte das Erlebnis mit Mohammad, der ihr Leben nochmal verändern oder vielleicht auch ergänzen sollte. Sie half bei der Essensausgabe einer kleinen, lokalenHilfsorganisation, der Krisenküche, sammelte privat Möbel und Fahrräder für diejenigen, die es sich nicht leisten konnten. Das waren viele Flüchtlinge, Asylwerber, Migranten, aber nicht nur. Wenn man mal Einblick in die Teile der Gesellschaft bekommt, die von den meisten übersehen oder abschätzig angesehen werden, relativiert sich vieles. Es macht sie wütend, wenn von Asylindustrie gesprochen wird, es machte sie rasend, als der Bürgermeister beim Tag der Offenen Tür der Krisenküche die Einladung mit der Begründung ablehnte, dass das alles ganz toll sei, was geleistet wird, aber man den – Zitat – „Obdachlosen-Tourismus“ eigentlich nicht unterstützen dürfe. 

Rosi wird oft als Gutmensch tituliert, es hängt ihr beim Hals heraus, zu fragen, ob das umgekehrte Pendant erstrebenswert sei. Rosi fragt sich, wann das angefangen hat, dass Menschenverachtung den gesellschaftlichen Diskurs dominiert. Da hat sich doch eindeutig was verschoben. Nicht nur im Mittelmeer sterben Menschen, geduldet. Rosi hat Angst davor, dass ihr Enkelsohn sie einmal fragt, warum alle weggeschaut haben, wenn es Menschen gab, die Hilfe brauchten. 

Rosi schmeißt den leeren Joghurtbecher in den Müll und fährt heim, sie wird heute mal auf das Joghurt verzichten. 

menschen treffend: herbert

Wir treffen auf Herbert. Es ist wahrscheinlich nicht sein erstes Bier. Sein roter Kopf kommt aber wohl eher vom Sitzen in der prallen Mittagssonne. Die Biertisch-Reihen sind sehr gut gefüllt, die Schirme und Schattenplätze eher rar. Das war der Platz, den er fand und den verteidigt er nun auch. Vor ihm liegen die Reste eines Wiener Schnitzels mit Kartoffelsalat. Die Soße aus Essig und Ketchup hat sich schon ungut in einen Teil des Schnitzels eingesogen, deshalb lässt er das stehen. Er deutet dem Kellner, dass er es mitnehmen kann und beobachtet wie die Gabel dann zu Boden fliegt. Der Kellner ist vermutlich auch schon angetrunken. Herbert bückt sich nach der Gabel und reicht sie dem Kellner und bestellt, bei der Gelegenheit gleich eine weiteres großes Bier. Das kann noch länger dauern, das sitzen zwischen all diesen Leuten. Manche kennt er, grüßt sie von der Ferne (der Karli, der Schorschi, der Walther), bei anderen dreht er sich weg. Mit Heinz hat er vorhin kurz gesprochen, er hat immer noch das chronische Rückenleiden, wegen dem er in die Frühpension gehen konnte. An manchen Tagen beneidet er ihn dafür, meist ist er aber froh darüber, selbst noch keine größeren Beschwerden zu haben. Gut, er könnte etwas abnehmen, sein Bauch wird wohl nicht mehr kleiner werden, der Arzt mahnt diesbezüglich regelmäßig. Eigentlich geht es Herbert aber sehr gut. Wenn er an Klaus oder Peter oder Hans denkt, alle in seinem Alter, alle drei kämpfen mit irgendeiner Art von Krebs. Toni haben sie erst letzte Woche verabschiedet, wie so viele davor, zuviele. Herbert zündet sich in dem Moment die Zigarette an, in dem auch sein frischgezapftes Bier kommt, steckt sich die Zigarette in den Mund und holt etwas ungelenk aus seiner Jeans einen fünf Euro Schein hervor. Er gibt zwanzig Cent Trinkgeld, das muss reichen, schließlich bekommt er sein Geld auch nicht geschenkt. Herbert hustet, aber es ist das angenehme Husten nachdem man etwas gegessen hat, bei dem sich der Schleim etwas löst. Er blinzelt zufrieden und gut gelaunt in Richtung der Süßigkeiten-Bude, bei der Kinder gerade beraten, was sie sich kaufen sollen, und nimmt einen kräftigen Schluck. Herrlich, denkt er, so fühlt sich das Leben doch schön an. Die Leute um ihn herum kennt er nicht, so ist das bei Zeltfesten, wenn man zusammenrücken muss. Aber als sie sich zum ihm setzten, gab es schon ein kurzes Gespräch, man verständigt sich einfach, das gehört dazu. Was Herbert wirklich mag, ist diese kleine Art der Solidarität, die sich einstellt, wenn man gemeinsam an so einem großen Biertisch sitzt, gemeinsam das gute Wetter oder das Essen lobt oder mit einer Stimme sich über die schlechte Bedienung, die zu hohen Preise aufregt oder alle sich gemeinsam dafür einsetzen, den Kellner möglichst schnell zum Tisch zu holen um eine weitere Runde zu bestellen oder darauf hinzuweisen, dass noch das Besteck fehlt. Kopfschütteln am Tisch. Alle haben Schnitzel gegessen, einvernehmliche Meinung ist, dass es doch etwas flachsig war. 

Schon länger schauen alle am Tisch allerdings in verschiedene Richtungen, das Geschehen beobachtend, den Blicken ausweichend, der Band zuhörend. Unglaublich, wie lange diese Band, bestehend aus dem Sänger und Gitarristen, der regelmäßig auch die Ansagen macht („Dann ein Prost in die Runde“), und der Keyboarderin, die einen Großteil des musikalischen Arrangements bewältigt, schon durchhält. Die spielen sicher schon, also, bis auf eine kurze Klopause spielen die, seit Herbert hier angekommen ist, das ist nun auch schon ein paar Stunden her. Sunshine Band, so nennen sie sich, buchbar für jeden Anlass. Die Songauswahl erstreckt sich zwischen Schlager und Mitsing-Hits aus mittlerweile vier Jahrzehnten, DJ Ötzi und Andreas Gabalier miteinschließend. Das Publikum geht mit, eine Gruppe von mindestens siebzigjährigen Frauen tanzt im Kreis. Herbert amüsiert sich über sie, gleichzeitig ist er aber beeindruckt von ihrem Mut. Schon mit leicht angetrunkenem Blick (Er spürt das Bier und weiß, in der nächsten Viertelstunde wird er sich aus den Reihen Richtung Klo bewegen müssen) beobachtet er auch die Frau zwei Reihen weiter, die sitzend mittanzt, was aussieht als ob sie einen sanften Boxkampf vollführen würde, gleichzeitig aber auch wie das Kurbeln einer Maschine. Dampflok denkt er, er denkt an eine Dampflok. Wahrscheinlich ist ihr Mann, der neben ihr sitzt ein Lokführer. Herbert lacht laut auf und nimmt noch einen kräftigen Schluck von seinem Bier. Schön ist es hier. Der Politiker, der durch die Reihen schreitet und mit großer Geste grüßt, kann ihm aber gestohlen bleiben, noch ein Schluck. Für die Arbeiter wird Politik schon lange nicht mehr gemacht, noch ein Schluck. Herbert kann sich erinnern, dass früher auch noch Reden gehalten wurden, die vermisst er auf eine Art doch sehr. Und früher wurde auch noch in regelmäßigen Abständen „Die Internationale“ angestimmt, heute hört er nur „Hulapalu“. Er bleibt trotzdem sitzen.