menschen treffend: gerda

Wahrscheinlich war sie nicht eine der ersten Schaffnerinnen Österreichs, aber es hat sich damals so angefühlt, denn um sie herum gab es nur Kollegen, viele von ihnen, die schon seit etlichen Jahren in den Zügen unterwegs waren. Korrekterweise ist die eigentliche Bezeichnung für ihre Arbeitsstelle Zugbegleiter, oder eben Zugbegleiterin. Als Gerda ihren Dienst das erste Mal antrat, war sie stolz, auch wenn die Arbeitskleidung nicht so recht passen wollte, aber sie war der völligen Überzeugung, das Richtige für sich gefunden zu haben. Zugreisen machten ihr Spaß, sie war vom Bahnverkehr, von Zügen und der ganzen Logistik dahinter fasziniert, schon seit ihrer Kindheit. Das ist die Zeit, wo man sich das romantische Bild des Zugverkehrs aufbaut und Gerda hatte nur wenige Meter von einem kleinen Bahnhof entfernt gewohnt.
Die Arbeit machte ihr Spaß, das Zusammenkommen mit den Kollegen, auch der Kontakt zu den Bahnreisenden. Nur selten gab es unangenehme Begegnungen mit Fahrgästen, die mit allen möglichen Tricks sich ein Ticket ersparen wollten oder sich beschwerten. Beschwerden gab es aus den verschiedensten Gründen: Verspätungen, Halt auf der Strecke, verdreckte Abteile, undeutliche Ansagen, defekte Heizungen, defekte Klimaanlagen, defekte WC-Anlagen, überfüllte Züge, defekte Lampen, defekte Kaffeemaschinen im Bordrestaurant, fehlendes Angebot im Bordrestaurant, lärmende Reisende der 2. Klasse, die auf dem Weg ins Bordrestaurant durch den Waggon der 1. Klasse mussten, defekte Steckdosen, defekte Türen,… Viele der Probleme waren schon vorprogrammiert, denn schon bei Fahrtantritt bekannt und so konnte Gerda sich immer ausrechnen, wie ihr Dienst verlaufen würde. Zumeist konnte das Problem natürlich nicht gleich behoben werden, und in den meisten Fällen war Gerdas Art aber hilfreich dabei, die Auseinandersetzungen zwischen den Reisenden zu moderieren. Zur Seite stand ihr im Zweifelsfall immer ein Kollege, mit dem sie ihren Dienst versah und mit dem sie nach Schichtende immer noch etwas trinken ging, entweder in der Kantine oder in einem der Bahnhofsrestaurants, egal ob es am Nachmittag, nach Mitternacht oder nach einem langen Dienst in der Früh war.
Dann kam die Zeit, in der kein Kollege mehr da war, Dienste führte man alleine durch. Ein Zugbegleiter oder eben eine Zugbegleiterin pro Zug sollte reichen, die Züge waren moderner geworden, es gab nun auch Steckdosen, die defekt sein konnten oder sehr viel später dann unzureichenden Mobilfunkempfang, weniger kleine Abteile und fast ausschließlich Großraumabteile, also Waggons. Alles etwas hygienischer zwar, weil weniger gepolsterte Sitze und mehr Mistkübel, aber eben auch etwas enger, gefühlt. Aber, yeah, die erste Klasse wurde luxuriöser und machte nun ein Drittel des Zugs aus, auch wenn sie fast leer war. Alles etwas stressiger, vor Fahrtantritt, währenddessen und auch danach. Man sollte sich nun um alles allein kümmern können und wo es davor schon schwierig war, den gesamten Zug zu überblicken, wurde es im Alleingang nun noch schwerer.
Gerda kann sich gut daran erinnern, als es sich änderte, die Arbeit nicht mehr so vergnüglich war, da zu der Zeit auch der Bahnhof in der Nähe ihres Elternhauses aufgelassen wurde. Dass dies irgendwann folgen würde, kündigte schon das Verschwinden der Trafik im Bahnhofsgebäude an, bei der sie in ihrer Kindheit immer Zeitschriften und Süßigkeiten geholt hatte, danach folgte das kleine Bahnhofs-Gasthaus, die Toiletten wurden nicht mehr gewartet, dann wurde das Bahnhofsgebäude geschlossen und die Reisenden mussten rundherum gehen, um auf einen der zwei Bahnsteige zu kommen, das Gras rundherum wuchs immer höher. Das war schon eine Zumutung, aber dann folgte die vollständige Schließung und man musste jetzt in den nächsten Ort fahren um mit der Bahn fahren zu können. Die Parkplätze dort blieben allerdings leer, weil die meisten Leute, dann gleich mit ihrem Auto weiter zur Arbeit fuhren. Henne oder Ei? Das ist immer die Frage. Waren die immer schlechter
werdenden Bahnverbindungen schuld daran, dass immer weniger Menschen den öffentlichen Verkehr nutzten oder war es eine logische Entwicklung, weil sich immer mehr Menschen ein Auto oder sogar zwei Autos pro Familie leisten konnten und Preis gegen Leistung und Bequemlichkeit gegenrechneten und sich für das völlig unabhängige Fahrzeug entschieden, das sie jederzeit aus ihren Garagen oder neu gebauten Carports fahren konnten. Wiederum die Frage: Woran lag das? Warum war Bahnreisen scheinbar nicht mehr so gefragt? War es noch attraktiv? War ein Job bei der Bahn überhaupt noch attraktiv und zukunftsfähig oder sollte sich Gerda nach etwas Neuem umschauen?, hatte sie sich gefragt, denn auch die Diensteinteilungen wurden immer unattraktiver und Gerda auch nicht jünger. Gerda blieb. Rundherum wurde sie gleichzeitig auf ihre Privilegien angesprochen, ohne dass jemand wirklich wusste, dass Zugbegleiter in Wirklichkeit unterdurchschnittlich bezahlt wurden, erst Mitte der 60er Sonntags- und Feiertagszuschläge eingeführt wurden, dass die Nachtschichten und die Kälte mit dem Alter nicht leichter zu ertragen waren. Gerda blieb bis zu ihrer Pensionierung, körperlich etwas angeschlagen. Jetzt könnte man sagen, „Ist einfach nichts für eine Frau“, aber auf der Suche nach Personal gibt es immer mehr Zugbegleiterinnen, die, nun mit besseren Outfits, allein durch die undankbaren Gänge der Railjets wandern. Gerda sieht sie. Und Gerda hofft sehr, dass sie beim Streik, der gerade angekündigt wurde, ganz vorne stehen und nachdem die Züge im Land alle mal stehen, sie danach lange noch weiter fahren, wieder besser bemannt bzw befraut – oder wie sagt man?