menschen treffend : nadja

Um diese Uhrzeit wäre sie vor einem Jahr wahrscheinlich am Rande einer Tanzfläche gestanden, hätte sich mit jemanden unterhalten, in Erwartung des perfekten Moments beziehungsweise des perfekten Lieds um die letzten Stunden noch zu tanzen. Vor einem Jahr wäre sie in dieser Nachtstunde noch nicht mal ansatzweise müde gewesen.

An der Tankstelle stehend, Automatenkaffee in der Hand arbeitet sie gerade daran, dass sie halbwegs wach wird, wach wirkt, darauf wartend, dass die Stapel an Zeitungen endlich geliefert werden, heute offensichtlich wieder mal verspätet. Es ist 2 Uhr. Nadja studiert den Zettel ihrer aktuellen Tour, darauf sieht man, welche Haushalte ihr Abo beendet oder pausiert haben, welche neuen Zustelladressen dazugekommen sind. Ebenfalls darauf ersichtlich, was man in der letzten Nacht falsch gemacht hat, welche Adressen man vergessen, wo man die Zeitung an den falschen Ort abgelegt hat. Meist arbeitet Nadja sehr genau, manchmal kann es aber passieren, dass man etwas übersieht, nachtformabhängig. Die Abonnenten werden unruhig, wenn sie nicht, wie gewohnt, rechtzeitig zum Frühstück ihre Zeitung bereitliegend haben. 

Nadja hat Publizistik studiert, als sie anfing noch mit der vagen Hoffnung oder dem Wunsch Journalistin zu werden, wozu ein Publizistikstudium ohnehin nie der richtige Weg war. Anstatt für Zeitungen zu schreiben, trägt sie nun Zeitungen aus. Als sie den Master in der Tasche hatte, begann für Nadja der Realitätsabgleich, nämlich einen Job zu finden, in dem sie nun arbeiten konnte. Ließ sich aber nicht finden, weder in den Stellenanzeigen der Zeitungen noch am Arbeitsamt. Nachdem sie weder kellnern wollte, was sie während ihres Studiums schon gemacht und immer gehasst hatte, noch weiter auf das erniedrigende, offizielle Service des Arbeitsmarkts bauen,  aber nunmal trotzdem Geld und also irgendeine Einkunftsmöglichkeit brauchte, hatte sie sich als Zeitungszustellerin beworden, der Flugzettel dazu wurde ihr absurderweise eines Morgens mit ihrer Zeitung zugestellt. Seit 9 Monaten und 18 Tagen steht Nadja nun Nacht für Nacht auf (es gibt nur wenige Feiertage an denen keine Zeitung ausgeliefert werden muss), steigt in ihr Auto und landet zuerst immer bei der Tankstelle an der Hauptstrasse, wo diverse andere verlorene Nachtarbeiter und NachtarbeiterInnen sich vor allem mit dem zielgenauen Werfen von mit Gummi eingerollten Zeitungen, dem Gerenne durch Treppenhäuser, dem Abzählen von Postkästen und dem Suchen nach Häusern ohne Hausnummer ihr Geld verdienen. Darunter sehr viele Migranten, und verweifelte Mütter (mit Schulden), verzweifelte Väter (mit Schulden), die teilweise auch einem Dayjob nachgehen. Sie alle treffen dabei auf glatte Straßen, unzählige bisswütige Hunde, verschiedenste Alarmanlagen und  betrunkene Gestalten. Oder das Auto gibt den Geist auf, mittendrin in der Schicht. Und ein genervter Kollege muss kommen und die Schicht übernehmen, wenn man nicht aus dem kaputten Auto raus, zu Fuß, die restlichen Zeitungen noch rechtzeitig verteilen kann. So ein Auto streikt schnell, die wenigsten haben ein aktuelles Modell, die meisten fahren in ihren Rostschüsseln herum. Unfälle werden nicht abgegolten, es gilt: Man ist in seinem Fahrzeug EinzelunternehmerIn, die die Aufgabe übernommen und dies auch unterschrieben hat, dass man selbstständig ein gewisses Kontingent an Zeitungen verteilt. Reparaturen kann man nicht geltend machen, höchstens dann in seiner Steuererklärung, sofern eine solche bei einer derart niedrigen Belohnung überhaupt Sinn macht. Krankheit interessiert auch niemanden, man hat selbst für Ersatz zu sorgen, schließlich ist man EinzelunternehmerIn, also fährt man eigentlich immer doch selbst. Es wäre auch viel zu aufwendig, jemanden einzuschulen, denn den Plan, wo man zuerst hin muss um dann wie weiter am schnellsten durch die Nacht zu kommen, während sich der Zeitungsstapel am Beifahrersitz, am Rücksitz, im Kofferraum langsam verkleinert. Einmal in der Woche will auch die Gratiszeitung noch zusätzlich ausgetragen werden, an jeden Haushalt, (zusätzliche Last) außer an all jene, die dies explizit vermerkt haben, muss man sich auch noch merken und zuerst mal bemerken. 

Es ist im Grunde ein scheinheiliges System in seiner Scheinselbstständigkeit, allerdings auch nicht viel anders wie bei den Paketboten, die Tag für Tag durch unsere Städte jagen im Auftrag von UPS, Hermes, DPD und wie sie alle heißen. Arme Gestalten der Nacht als Schattenzwillinge zu den armen Gestalten des Tages. Den modernen Ausgebeuteten unter uns, von denen niemand vermutet, dass sie es sind. Nämlich im Auftrag aber letztlich auf sich allein gestellt. 

Darüber sollten die Zeitungen mal berichten, denkt Nadja Nacht für Nacht, welche Sklaven, welches irre Prekariat sie schaffen, mit ihren Abfallprodukten aus Zeitungspapier, mit ihren Ablaufprodukten am Zeitungspapier. 

Wenn die Schicht wieder mal länger dauert als erwartet, wenn wieder mal etwas unerwartetes passiert, steigt in Nadja der Ärger hoch, vielleicht weil sie noch nicht gebrochen ist, weil sie sich mehr erwartet, vor allem Fairness, von einem Leben unter Menschen, weil Nadja weiß, man könnte es besser machen. Eben besser bezahlen, eine bessere Logistik, für den Anfang würde auch unbegrenzt Gratis-Kaffee mal reichen oder Worte der Wertschätzung, neben dem Zapfhahn während man die Stapel hingeknallt bekommt. Stapel voll mit kopierten APA-Meldungen, vollgestopft mit Anzeigen, die Artikel simulieren, mit Artikeln, die Anzeigen verpacken. Seitenweise Hinweise auf die besten Preise. Zeitungsblätter als Werbeblätter. Von gutem Journalismus keine Spur. Von Haltung ist schon lange keine Rede mehr, von Meinungsbildung  (mit Betonung auf den zweiten Teil des Wortes), auf die Gatekeeper-Funktion, nämlich Ordnung in eine zunehmend komplexer werdende Welt zu bringen, auf mehr zu verweisen als auf sich selbst. Aber dahin schweift Nadja weit ab, in ihrer Erwartung, an das Produkt, das sie verteilt. Und sie gibt ihren Traum nicht auf, von der Zeitungsausträgerin zur Zeitungsverlegerin. Sie würde es besser machen, denkt sie sich, wenn sie die letzte Zeitung ihrer Tour, wie gewünscht, in einen Plastiksack verpackt und mit Gummiringerl gesichert, direkt vor die Haustür des weißen Hauses mit den zwei Betonlöwen in der Sackgasse ablegt, das immer noch kein automatisches Licht im Garten hat. 

Es ist sechs Uhr. Vor einem Jahr wären die Lichter des Club nun angegangen und Nadja wäre ähnlich durchgeschwitzt aber zumindest euphorisiert nachhause gegangen. 

In: kaz. – 09/2020

menschen treffend : willi

Vor einer halben Stunde hat er seinen Text schnell noch in die Redaktion geschickt, nun steht er schon am Seeufer in seiner Männerrunde und stößt mit dem ersten Glas Wein an. Regelmäßig wird Willi zu Vernissagen, Eröffnungen und Events eingeladen, nur mehr selten nimmt er diese Einladungen auch an. Es sind die Menschen, viele von ihnen will er nicht sehen, nicht diese Anhäufung von sozialer Interaktion, die irgendwann unüberschaubar wird und sich vom ständigen Smalltalk nie wegbewegt.

In seiner oberen Zahnreihe hängt noch ein Stück Fleisch, vom Salamibrot, das er gegessen hat, während er den Artikel, also seine Besprechung zu einer Ausstellung schrieb. Es wurde ein absoluter Verriss, noch immer kocht in ihm das Blut, in tatsächlicher Raserei hämmerte er seine Verwunderung über eine derart schlechte Kunstausstellung in der, in seinen Augen, ohnehin miserablen Galerie. Von seiner Meinung konnte ihn auch die, in seiner Wahrnehmung, völlig überengagierte Galeristin nichts ändern, die ihn vollquatschte, während er nur in aller Ruhe durch die Galerieräume schreiten wollte. Das machte er dann auch, allein, aber hastig, um nicht noch weitere Worte mit einer der Verantwortlichen sprechen zu müssen. Starke Frauen in seinem Alter machen ihm Angst, würde er so nicht zugeben, auch nicht an sich bemerken. 

Erst beim dritten Glas Wein bemerkt er, dass ihm etwas zwischen den Zähnen hängt und mangels Zahnstocher (ärgerlich!) versucht er das Undefinierbare mit seinen ungepflegten Fingernägeln loszuwerden. 

Die Gespräche am See sind heute eher seicht, denkt er sich, denkt er sich tatsächlich und muss kurz schmunzeln, obwohl er sonst einen ernsten Ausdruck auf seinem Gesicht trägt und nur gequält zum Lächeln zu bringen ist. Manche würden ihn humorlos nennen, aber Willi meint, wer in solchen Kategorien denkt, glaubt auch, dass Spaß ein Bestandteil des Lebens ist. Andere nennen ihn phantasielos, dem würde er jedoch strikt widersprechen, denn an Vorstellungskraft fehlt es ihm nicht. Ihm ist eher alles zu eindimensional, so so so, also nicht so kosmisch, wie er es gern hat. Kosmisch – ein Lieblingswort von Willi, das er gerne in Konversationen einstreut um den höheren Charakter von Dingen zu beschreiben. Das macht er gerade auch und alle hängen an seinen Lippen. Willi hört natürlich weniger gerne zu als selbst zu sprechen, sich selbst sprechen zu hören. Man könnte in Frage stellen, ob es daran liegt, dass er soviel zu erzählen hat, dafür ist Willi doch zu schmallippig. Oder ob es nicht vielmehr daran liegt, dass er aufgrund seines Journalistenhobbys eine Begehrlichkeit weckt und eine gewisse Macht ausstrahlt. Es ist natürlich nicht wirklich ein Hobby, er bekommt selbstredend ein Honorar für seine Texte auf der Kulturseite der lokal meistgelesenen Zeitung, aber für die Berufsbezeichnung Journalist fehlt es ihm doch an der Regelmäßigkeit, auch am Ethos. Sein wirkliches Hobby ist es, unter einem Pseudonym in den Diskussionsforen diverser Zeitungen mit anderen Usern zu argumentieren und auf deren Rechtschreibfehler hinzuweisen. Seine Waffen in diesem täglichen Kampf sind ein Duden aus den 80er Jahren zur deutschen Rechtschreibung und Georg Buchmanns „Geflügelte Worte“, ein Standardwerk. Beides liegt auf seinem Schreibtisch in seinem Arbeits- respektive Computerzimmer immer griffbereit. Hinter ihm reihen sich im Bücherregel die Gesamtausgaben von Goethe, Schiller oder auch modernen (sic!) Autoren wie Martin Walser und Günther Grass aneinander, alles gut sichtbar und geordnet. Und natürlich steht da noch viel mehr herum, was man gelesen haben muss, also was allgemein als Kanon anerkannt ist. Aber dort in seinem Bücherregal gibt es auch diverse Bücher, die er geschenkt bekommen hat, manche von den AutorInnen selbst, teilweise sind sie noch eingepackt. Er kann ja nicht alles lesen, dafür fehlt ihm die Zeit, oder anders: dafür ist ihm seine Zeit zu kostbar. Wenn Willi ehrlich wäre, würde er zugeben, dass er selbst im „Mann ohne Eigenschaften“ einen Großteil überblättert hat. Gerade soviel lesen, dass man eine Ahnung hat, nur soviel reinlesen, dass man daraus zitieren kann. Willi zitiert gern, damit zeigt er seine Intellektualität. 

Beim fünften Glas Wein ist das Fleischstück schon etwas kleiner geworden, was gut ist, es kommt mit Nummer 5 allerdings sein unangenehmer, cholerischer Charakter etwas heraus, der aber naturgemäß weiter akzeptiert wird, weil sowieso alle schon auf seinem Niveau sind. Damit werden die Gespräche auch nicht mehr interessanter, die Verhaltensweisen auch nicht edler. Es fallen anzügliche Bemerkungen über die junge Kellnerin, die gerade die Tische abwischt. Willi hält sich zurück, er schaut zwar auch gerne jungen Frauen hinterher, ist aber doch so kultiviert, das gut zu kaschieren. Auch seine Rülpser werden nicht bemerkt. 

Die Männerrunde beginnt beim sechsten Glas zu singen, Willi grummelt eher mit, während die anderen lauthals tönen, das ist Willi unangenehm, peinlich berührt sieht er sich um. 

Dann noch ein siebtes Glas, zum Abschluss, dann aber …

Bald wird er die Runde verlassen haben und in seinem Mercedes Benz nachhause gefahren sein. Niemand wird ihn aufgehalten haben. Dort wird er sich vor seinen Schreibtisch gesetzt und für fünf traurige Minuten einen kurzen Pornoclip angeschaut haben, während er mit einer Büroklammer endlich das Fleischstück aus seinen Zähnen entfernt haben wird. 

menschen treffend : thomas

„Ich bin Anwalt“, das wäre der Satz, den Thomas jetzt gerne sagen würde, aber das ist er nunmal nicht. Anwalt ist Thomas leider nicht geworden, obwohl sein Vater sich das gewünscht hätte. Thomas ist Webdesigner, arbeitet in einer Grafikagentur, viel am Computer. Hinter Bildschirmen versteckte er sich immer schon gern, was ihm mit Ende Dreißig nun regelmäßig Rückenschmerzen verursacht. Schon als Teenager hing er ständig vorm Fernseher, an der Spielkonsole und verbrachte einen großen Teil seiner Freizeit damit, sich als Held durch digitale Welten zu bewegen. Wenn er nicht gerade im Haushalt mithelfen musste oder auf eine seiner drei Geschwister aufpassen. 

In der engen Wohnung kam man sich natürlich auch dauernd in die Quere, ungestört war er selten, unzählige Male wurden seine Spielstände gelöscht oder eine seiner Gaming-CDs zerkratzt und zerstört. Er hätte natürlich rausgehen können, wie alle anderen auf den Spielplatz der Wohnsiedlung, mit den anderen Kindern spielen, aber da hätten keine Freunde auf ihn gewartet. Auch in der Schule war er ein Einzelgänger, obwohl sich seine Volksschullehrerin sehr bemühte, dass er Freunde findet. Dieselbe Lehrerin, die ihm dann bei jeder Streitigkeit die Schuld gab, wenn er, nachdem die anderen Jungs ihn wieder mal verarscht hatten, erneut eine Rauferei begonnen hatte, was so eigentlich gar nicht stimmte. Das war unfair, klar, fühlte sich für ihn so an, ja, aber oft war er auch verunsichert, ob er nicht doch einfach aggressiver als die Anderen sei, vor allem nachdem er zu einer Kinderpsychologin geschickt wurde. Die Lösung war, dass er sich von den Anderen fernhielt und nach der Schule sofort nachhause ging. Zum zehnten Geburtstag bekam er dann eine NES (Nintendo Entertainment System) geschenkt, seine Eltern wollten ihn aufheitern, weil er so traurig wirkte, so pixelig fing seine Computerspiel-Leidenschaft an. 

Die Jahre vergingen, die Spielkonsolen wurden immer besser, regelmäßig gab es ein Upgrade, Thomas hatte immer das aktuellste Gerät. Seine sozialen Kontakte wurden allerdings nicht besser, auch im Gymnasium, auf das er es aufgrund seiner guten Noten und trotz der Empfehlung seiner Volksschullehrerin doch eine Hauptschule zu besuchen, geschafft hatte, blieb er der Außenseiter. Innerhalb der Klassengemeinschaft war er kaum gefragt, außer im Turnunterricht, wo er einer der sportlichsten war, weil er dort seinen Bewegungsdrang zweimal die Woche dann gebündelt ausleben konnte. Im Turnunterricht fühlte er sich gut und beliebt, das genoss er, gerade weil es danach wieder schwierig wurde. Wenn etwas in der Klasse verschwand, wurde er verdächtigt. Wenn etwas kaputt ging, schob man ihm die Schuld zu. Und erneut war es bei Raufereien immer Thomas, der den Klassenbucheintrag bekam. Zurecht fragte Thomas sich, warum letztlich immer er der Schuldige sein sollte, wo doch gerade er ständig außen vor stand. Und die meiste Zeit beobachtete, welchen Spaß die anderen hatten, welche Pläne die anderen fürs Wochenende ausmachten, irgendwann welche Partys ohne ihn stattfanden. Nur Manuela, die neben ihm saß und mit der er sich ganz gut verstand und über Comics und Computerspiele reden konnte, war ebenfalls nie eingeladen. Aber auch Manuela traf er nie außerhalb der Schule. Während die anderen herumknutschten, saß er zuhause, vor seiner Konsole, bis er diese – genauso wie die Schule – für eine Zeit hinter sich ließ.

Nach der Matura ging er für ein Jahr nach Graz um seinen Zivildienst zu machen, im Altenheim war er beliebt, weil er immer so freundlich und sozial sei, bekam er bestätigt, was er wohl in seiner Großfamilie gelernt habe, wie ihm gesagt wurde, im gleichen Atemzug wie ihm die Senioren und Seniorinnen die seltsamsten Spitznamen gaben und ihn ständig betatschten. 

Nach dem Zivildienst kehrte er wieder zurück in seine Heimatstadt, das Ausgehen in die Bars der Stadt hatte er nie genießen können und er hatte es leid, ständig nach Drogen gefragt zu werden, wenn er durch den Park spazierte.

Zurückgekehrt bekam er einen Job in einer Hosting Firma, die Konkurs ging, wurde aber glücklicherweise von der Grafikagentur übernommen, die ihn auch gleich eine Ausbildung bot, allerdings eher nach dem Motto learning by doing. Er hat schnell gelernt und seine Arbeit wird geschätzt. Das erste Mal fühlte er sich angenommen, als vollwertiger Teil dieser Firma, nicht wie jemand, der nirgends reinpasst und mit niemandem zurecht kommt. 

Genau deswegen arbeitet er dort immer noch, wie er dem Polizisten jetzt schon mehrmals erklärt hat. Nicht dass Thomas wüsste, was den Polizisten das angeht, deswegen hätte er ja gerne einen Anwalt, aber das gibt es so wohl auch nur in Filmen. 

Dass er während der Amtshandlung zunehmend ungehalten wurde, lag nur daran, dass er und sein Auto auch noch durchsucht wurden, als ob es etwas Spannendes zu finden gäbe. Dass er vorhin auf der Wache schrie, lag an der ungeklärten Situation, weil niemand konkrete Aussagen machte, wann er endlich heim darf. Er hat doch schon zugegeben, dass er mit seinen Kollegen wohl ein Bier zuviel getrunken und seine Alkoholisierung unterschätzt hat. Er hätte nicht ins Auto steigen sollen, das war natürlich dumm, aber 0,7 Promille sind auch kein Vollrausch. Führerschein ist wahrscheinlich erst mal weg, scheiße! Strafe soll sein, ja! Aber Thomas will endlich nachhause. Und jetzt behandelt man ihn wie einen Schwerverbrecher. Das regt ihn auf, gleichzeitig ist er erschöpft.

Thomas sinkt auf dem Stuhl in der Wache zusammen. Müde blickt er auf seine Hände, dreht sie langsam hin und her – betrachtet die hellen Innenflächen seiner Hand und den dunkelbraunen Rest seiner Haut. 

menschen treffend : sonja

Jetzt klatscht niemand mehr. Das ist sie jetzt, die neue Normalität, die sich schon wieder verdammt ähnlich wie die alte Version davon anfühlt. Über zwei Monate lang war Sonja beim AMS gemeldet, nun läuft sie wieder zwischen Gästen im Gastgarten herum, der erweitert wurde, und nimmt Bestellungen auf, die oft genauso langsam oder unfreundlich angesagt werden, wie sie es im Februar dieses Jahres gewohnt war. Da kam Corona und es war schon absehbar, dass es früher oder später auch ihren Arbeitsplatz treffen würde. Zuerst blieben die Gäste langsam aus, dann folgten Maßnahmen auf Maßnahmen und dann durfte ihr Café, also der Platz, an dem sie als Kellnerin arbeitete, gar nicht mehr aufsperren. Plötzlich arbeitslos, ein Zustand, den sie nicht erwartet hatte, etwas, vor dem Sonja eigentlich unglaubliche Angst hatte. Als es dann soweit war, fühlte es sich nicht mehr so schlimm an. Mit ihr verloren hunderttausende ihren Arbeitsplatz, aber der gleichzeitigen Aussicht, dass dies zeitlich begrenzt sein würde. Am Anfang natürlich ungewohnt, kein Wecker am Morgen, freie Einteilung des Tages, allerdings mit der Einschränkung, dass sie ihrer Tochter bei der täglichen Hausübung – die nun gleichzeitig als Schulübung galt – zwischendrin helfen musste. An sich war ihre Tochter sowieso sehr selbstständig, denn wenn sie von der Schule heimkam, machte sie sich meistens selbst das Mittagessen und oft auch das Abendessen, wenn der Dienst im Café wieder länger dauerte. Der Alltag war geprägt von schlechtem Gewissen, ihrer Tochter nicht genug bieten zu können, vor allem viel zu wenig Zeit für sie zu haben. Denn wenn Sonja heimkam, war sie meistens völlig erschöpft und müde und nur noch halbherzig bei den Erzählungen ihrer Tochter dabei, oder dem Wunsch noch etwas gemeinsam zu spielen. Meistens wurde einfach der Fernseher eingeschaltet und man saß noch gemeinsam für eine Stunde zusammen, bis ihre Tochter schlafen gehen musste. Interessanterweise war seit dem Zeitpunkt, an dem „Corona den Job weggenommen hat“, der Fernseher kein einziges Mal in Betrieb gewesen, es hat sich einfach nie ergeben.

Und unglaublich, was Sonja jetzt alles schaffte. Keine liegengebliebenen Wäscheberge, kein Geschirr in der Abwasch, mindestens zweimal am Tag frischgekochtes Essen. All das, was sie sonst nicht bewerkstelligte, sich Vorwürfe machte, warum das andere in ihren Tagesablauf integrieren können und ihr das Gefühl gaben, nicht genug zu leisten, nicht zu genügen, alles falsch zu machen. Wenn Sonja ehrlich nachdachte, hatte sie die Zeit genossen, in der sie gar keine andere Wahl hatte, als daheim zu bleiben. Sie hatte seit Jahren endlich wieder Zeit, frei verfügbare Zeit, Zeit für ihre Tochter und zusätzlich auch noch Zeit für sich. Es gab kein Herumhetzen, kein Stress, niemand, der sie zu irgendwas zwang. Es war durch und durch schön, auch wenn die Lage vor ihrer Haustür noch so bedrohlich anmutete. Interessanterweise hatte sie am Ende des Monats auch noch Geld am Konto, und dies obwohl das Arbeitslosengeld geringer ausfiel als ihr eigentlicher Monatslohn, der aber ohnehin schon niedrig war – und ohne dass sie von irgendeinem Hilfsfond etwas bekommen hätte. Ein Hilfsfonds für alleinerziehende Mütter mit so geringem Einkommen wurde nicht geschaffen. Egal, brauchte sie ohnehin nicht, mit ihrem Plus am Konto am Ende des Monats. Sonja hatte natürlich weniger eingekauft, nämlich tatsächlich nur die Lebensmittel, die sie wirklich brauchte, keine Dinge in Aktion, die irgendwie praktisch schienen und sich beim Diskonter so verlockend abwechseln. Es gab keine Chance zu shoppen, weder neue Schuhe, noch neue Jacken und auch keine neuen Hosen. Ihr Schrank war ohnehin vollgestopft mit dutzenden Varianten von Outfits, die sie selten anzog, und jetzt während der Ausgangseinschränkungen und ihrer vielen Zeit endlich ausmistete, genauso wie all das Zeug, dass sich in den Jahren in ihrer kleinen Wohnung angesammelt hatte und Platz wegnahm. Sie verspürte in sich eine gewisse Art von Befriedigung, tatsächlich nichts zu kaufen, absolut nichts außer Lebensmittel. Sie merkte, dass sie eigentlich nicht viel brauchte.

Sonja verspürte in sich etwas, das lange schon nicht mehr so in ihr präsent war: Glück. Sie war glücklich, mit sich, mit ihrer Tochter, mit ihrer Umgebung. Sie empfand eine Freude zu leben, auch das war gar nicht mehr so selbstverständlich. Einen Satz wie „Die Welt ist schön“, dachte sie sich, als ihre Blumen am Fenster zu blühen anfingen. Dass erst eine Pandemie über die Menschheit hereinbrechen musste, damit Werte wieder als anders definierbar erscheinen. Vielleicht setzt ein Umdenken ein, hatte sie sich lange gedacht, gehofft, sie hatte fast dafür gebetet, denn endlich konnte sie sich ein richtiges Leben vorstellen, das nicht von einer stetigen Abfolge von Aufgaben, von Arbeiten, Abarbeiten, und gleichzeitigen Existenzängsten geprägt sein würde. Und alle erschienen für einen gewissen Zeitraum gleich, ähnlich verletztlich und deswegen hilfsbereit verbunden. Begrifflichkeiten wie „Gefährder“, „soziale Distanz“ und „Reproduktionszahl“ wurden durchmischt mit Diskussionen, die aufatmen ließen: „Bedingungsloses Grundeinkommen“, „Solidarität“, „Achtsamkeit“, „Rücksicht“, „Hilfe“, … Die Menschen können das alles nicht mehr hören, vielleicht konnten sie es nie, genauso wie das Wort der Zeit mit „C“.

Es hätte so schön sein können, es wäre so schön gewesen, gut vorstellbar, es erschien möglich.

Jetzt scheint alles wieder wie immer, keine Rede davon, dass man mal alles ganz grundlegend überdenkt, worin wir leben müssen, keine Blicke über den Tellerrand, außer er ist schmutzig und Sonja wird zum Tisch gerufen. Unter ihrem Schutzvisier klingt sie gedämpft, wenn sie sich entschuldigt und schwitzt, wenn sie schnell zur Bar hetzt um sauberes Geschirr zu holen, das Plastik beschlägt, man sieht ihren Atem, der versperrt ihr die Sicht, ihr Herz schlägt schnell, das sieht man nicht. Sonja ist unwohl.

Die Menschen haben ihre Masken wieder abgenommen, sie trinken ihren Kaffee wie eh und je, neben ihnen stehen die Waren ihrer aktuellen Shoppingtour. Made in China.

menschen treffend : mascha

Der Wecker klingelt um 5:55, Vogelgezwitscher, wird direkt auf Snooze geschaltet, um 6:05 als nerviger Ton und geht wieder direkt auf Snooze, und um 6:15 mit dem Lied „Guten Morgen Sonnenschein“, nervt auch, aber das ist auch der Sinn. Dann heißt es wirklich aufstehen, langsam Anziehsachen zusammensuchen, schnell ins Bad, bevor jemand anderer aus der Familie das Bad blockiert, denn für die nächsten 20 Minuten gehört das Badezimmer nur Mascha. Für alle vor der Türe bleibt es dann ein Mysterium, was hinter ihr passiert, ist allerdings auch nicht aufregend. Mascha braucht ihre gewohnte Morgenroutine: Duschen – Zähneputzen – Deo – und am längsten brauchen die Haare. Nein, sie schminkt sich noch nicht.

Mascha ist vor zwei Wochen 13 Jahre alt geworden, nunmehr ein Teenager also, seit dem Tag starren alle Erwachsenen in ihrer Umgebung sie an, in Erwartung, Mascha würde jetzt ganz schwierig werden. Mascha fühlt sich wie immer, vielleicht ist momentan in ihrem Leben etwas mehr los als noch vor ein paar Jahren, aber das hat ganz einfach damit zu tun, dass sie konkretere Interessen hat.

6:45 verlässt sie das Haus, bekommt von ihrem verschlafenen Vater, der gerade seinen ersten Kaffee trinkt noch eine Jausenbox in die Hand gedrückt. Der Bus kommt um 6:55, zweimal umsteigen und um 7:30 ist sie in ihrer Schule, wo sie noch etwas Zeit hat, schnell Hausübungen abzuschreiben oder ein paar Worte mit ihren Freundinnen zu wechseln. Die Schulglocke leitet den Schultag um 7:45 ein, gleich in der ersten Stunde steht heute ein Geografie-Test an, Mascha gähnt auffallend oft, nicht nur, weil sie gestern noch lange gelernt hat, sondern einfach, weil das Thema (Großräume, irgendwas mit Bergen und Landschaften) sie langweilt.

Jeden Wochentag von Null auf Hundert in eineinhalb Stunden, kein Wunder, dass sie am Wochenende meistens bis Mittag schläft.

In der zweiten Stunde folgt Englisch (nette Professorin, geht immer schnell vorbei), dann Pause – heute nur das Brot aus der Jausenbox, nicht der Müsliriegel -, danach Mathematik (Mascha schreibt mit, versteht aber nichts), gefolgt von Deutsch. Die Deutsch-Professorin erzählt etwas von Zeitungsartikeln und den Aufbau von Zeitungsmeldungen, absolut langweilig und teilweise auch einfach falsch, wie Maschas Vater schon bei der letzten Hausübung feststellen musste. Kein Wunder, denn die Deutsch-Professorin interessiert sich mehr für Gucci-Handtaschen als für die Vermittlung von Wissen, wie sie selbst schon zugegeben hat. Masche driftet wieder mal ab, verfolgt das Geschehen in der Klasse erst wieder als ein Klassenbucheintrag angedroht wird, Ben bestand darauf auf die Toilette gehen zu dürfen und hatte dabei einen Kaugummi im Mund, ein Streitgespräch ist im Gange, dass wohl die letzten zehn Minuten der Schulstunde schlucken wird. Tatsächlich, die Schulglocke läutet das Ende der Stunde ein, der Klassenbucheintrag ist passiert oder auch nicht, wie so oft, und die Deutsch-Professorin tätigt erneut den Ausspruch, dass sie die Klasse am liebsten abgeben würde, was allerdings nicht passiert, obwohl es sich alle SchülerInnen wünschen.

Nächste und letzte Stunde: Religion. Die Klassengemeinschaft splittet sich auf in Katholische (dürfen in der Klasse bleiben), Evangelische (müssen in einen Nebenraum wechseln) und dann gibt es noch Ajda, die eigentlich Muslimin ist, aber genauso wie Mascha und Valentin Freistunde hat, weil Ajdas Vater nicht soviel vom Religionsunterricht in der Schule hält. Was Valentin genau ist oder nicht ist, hat Mascha ihn nie gefragt, sie ist auf jeden Fall „OB“, also ohne Bekenntnis, was sowohl als Abkürzung wie auch ausgesprochen seltsam klingt. In letzter Zeit gab es in ihrer Schule eine Diskussion über das Holz-Kreuz in den Klassenräumen, Mascha war es eigentlich egal, aber wenn sie so genau darüber nachdachte, war sie doch der Meinung, dass es eigentlich nicht verpflichtend dort hängen sollte – oder wenn, dann könnte man auch diverse andere Symbole aufhängen. Die Diskussion drehte sich ja eigentlich um etwas Anderes, nämlich ein politisch angestrebtes Kopftuchverbot, dass übrigens Ajda aus Protest – und modischen Gründen – nun manchmal ein Kopftuch tragen lässt, vor allem, wenn es kalt ist.

Nachdem Mascha an Freitagen nach der vierten Stunde offiziell schulfrei hat, beginnt für sie das Wochenende. Wobei sie seit einem halben Jahr nach der Schule noch einen weiteren Pflichttermin für sich gefunden hat: Sie ist eine von dreissig jungen Menschen zwischen 11 und 18, die an Freitagen mit ihren Schildern am Hauptplatz ihrer Stadt stehen und protestieren, gegen den Raubbau an unserem Planeten und dass der Klimawandel ernstgenommen wird. Schulstreik fürs Klima! Streng genommen streikt Mascha nicht, sie hat schließlich schon frei, aber darum geht es ja eigentlich auch nicht. Es geht um Solidarität, es geht um den Willen etwas zu bewegen, es muss sich was ändern. Mascha macht sich wirklich Sorgen, vor allem seit sie ungefähr das Ausmaß der Katastrophe begriffen hat, und dabei ist sie wahrscheinlich nur über einen Bruchteil informiert, was gerade auf der Welt falsch läuft. Dagegen will Mascha was machen und bemüht sich selbst auch die Veränderung zu leben, die sie einfordert. Mascha hat aufgehört, Fleisch zu essen, benutzt prinzipiell keine Strohhalme mehr, kauft keine PET-Flaschen mehr sondern hat jetzt immer ihre Glastrinkflasche dabei, sie versucht soviel wie möglich wiederzuverwerten und fährt jetzt lieber mit dem Fahrrad oder geht zu Fuß als sich von ihrer Mutter mit dem Auto herumfahren zu lassen. Das sind alles Kleinigkeiten, aber irgendwo muss man ja anfangen. Dass sie trotzdem ihre Kleidung in den großen Modeketten kauft, die billigst und massenhaft in Bangladesch unter schlechten Bedingungen hergestellt werden, ihr Smartphone liebt genauso wie Avocados zu jeder Jahreszeit ist problematisch, das ist ihr bewusst, aber gerade deswegen möchte sie auch das noch ändern.

Vielleicht ist sie zu oft auf Instagram, ganz sicher wischt sie sich dort durch eine Timeline, die von künstlichen Hypes durchzogen ist, aber Freitag Mittag steht sie am Hauptplatz mit ihrem selbstgebastelten Schild, für ein besseres Klima auf der Welt, für ihre und unser aller Zukunft.

Und nachdem die Demonstration beendet ist, geht sie mit ihren Freundinnen noch zu Mc Donalds, trinkt einen Orangensaft und isst einen Muffin, ihr ist klar, dass sie damit vermeidbaren Müll produziert und dass sie zurecht dafür kritisiert werden kann, aber auch das Treffen beim „Mäci“ ist für Mascha sowas wie ein Highlight der Woche zwischen Schulstress, Lernen und Hausaufgaben – und außerdem macht sie es immer seltener.