ein neues JA

erwachte ich. es war schon morgen. was soll das jetzt, was soll das nun für ein erfrischter, ein mensch sein?

glücklicherweise hat es in der letzten nacht nicht gekracht oder nur selten und dann von fern. die blitze am himmel waren trotzdem heiß, aber daran konnte ich mich nicht verbrennen. das eis funkelte im garten dahin, das gras brach, ich sprach kein wort dem knirschen entgegen. war ich im dunkel entgleist; oder schon weit davor? beim spazieren schmerzte der linke fuß mehr als der rechte. erst als ich die schuhe anders band, ließ das nach, die kälte kroch jedoch danach mein bein hoch. mein atem fror sowieso schon vor meinen augen. 

im spiegel der gleiche, nur die uhrzeit eine andere, und weit stiller. ich hatte gelesen und gesehen und wieder gelesen und getrunken. die flaschen waren jetzt wegzuräumen, wie ich so allein soviel schlucken konnte, schreckt mich, erschreckte mich immer wieder aufs neue. doch ist es treibstoff wie auch stoff, der mich schützt, wie ein kostüm, das ich gestern eigentlich nicht gebraucht hätte. trotzdem war etwas zerbrochen. die scherben hob ich und zerschnitt mich. stand das auch so da? auf welchen seiten? 

das letzte jahr hatte mich völlig fragmentiert, kann ich jetzt sagen, oder vielmehr denken, kann ich immer noch, schon gut. ganz zerrissen, in fetzen, fühl ich mich. noch immer. es hängt an mir, etwas, es klebt die welt. wie zäher teig, zwischen den fingern eine spur von, ich weiß es nicht, ein ungesicherter duft. kleckse auf meiner haut. die fehlende stille, vielmehr der lärm, in dem man ausgesetzt ist, aussitzen muss, feststeckt, zeichnet sich ab. eine interessante art der faltung hatte ich erlebt, konnte ich beobachten. umgeräumt stand ich noch immer da, ausgesetzt. so bloß nicht weiter, immer wieder hatte ich im herbst gedacht, niemals wieder. ein anderer werde ich sein und dadurch wieder ich. ist das nicht verständlich. ein leben als text, der unlesbar ist, und an meiner handschrift war es nicht gelegen.

zulange in der wirklichkeit aufgehalten, politik gemacht anstatt poetik. überhaupt in falsche richtungen gedacht.

es liegt nicht alles in mir, die meisten konflikte spielen sich draußen ab, dem feind, der letztlich auch mich anzugreifen vermag. das weinen habe ich immer noch nicht erlernt, die tränen kommen mir einfach nicht entgegen, wenn ich nicht im kino oder im theater sitze. das träumen konnte ich mir wieder antrainieren, auch wenn es schmerzte, weil die bilder umso deutlicher einfielen auf mich; und ich mich in ihnen wälzte. wieder was gelernt, im letzten sommer, den frühling vergessend, die tage dazwischen. die sonne, das salz, das sattsehen am strand, im sand die erde verbrennen. einen unaufhaltbaren zerfall konnte ich an mir feststellen. das _nicht mehr einkriegen_, wie hält man das bloß aus? wie kann man diese ganzen gedanken bloß fassen, dafür fehlt doch der raum. oder nicht? oder ist es anders und nicht so. nicht so immer weiter, nicht immer wieder so und nicht anders. das muss enden, dieses zu weit gehen, soweit, dass man nicht mehr zurückfindet oder nur noch unter größter anstrengung, enormer anspannung. wie kann man sich in einem leben bloß so verheddern. und warum ist das keine frage? ich hatte mir auch vorgenommen nicht mehr so gelesen werden zu wollen, wie man – in ernster linie – geschrieben steht, aber das machen die gegenüber, welche die zeichen zusammenzählen und ihre schlüsse ziehen. aber das bin doch nicht ich! das bin ich doch nicht, schreit es in mir, für andere unhörbar, aber stärker kann ich es nicht betonen. 

es war nicht das letzte jahr, zugegeben, es war mehr als ein jahrzehnt, in der ich meine rollen besser als gut spielte. rollen, die mehrzahl, für jede gelegenheit eine andere, die ich meisterte. mir wurde soviel abgenommen, aber nicht das gewicht, das ein haufen an leuten zu verursachen im stande war, der ganze müll, der auf einem lastet. man will sich befreien und loslaufen, und kommt nicht los. 

welch überraschung mich nicht einmal ungeschminkt zu sehen. 

ich habe mich zu lange in der realität aufgehalten, sie hielt mich auf, was ich nachvollziehen wusste – aber mehr auch nicht. bitte nicht mehr, nicht immer mehr und mehr und vermerkt auf meinem hinterkopf, der glüht. dort legt sich die narbe frei, die weiter zieht, mit jeder wunde, die nicht mehr zu heilen ist. (die letzte habe ich vielleicht sogar übersehen). blut im wutbad. nebel im nebenhirn, das jahr davor war ich über die treppen gestürzt, im haus, und am heimweg auf den asphalt gestürzt und habe meine kopfdeckung in den fluß verloren. heißt es verronnen oder verrannt? verronnen oder verrannt?! es ist nicht zu beantworten, wenn man nicht weiß, warum.

wohin jetzt? wohin noch? in jedem wald muss es doch eine lichtung geben!

die gegenwart schon wieder verbraucht. den tod vor den augen, die ich mir zuhalte, dem ersten und dem nächsten. der rauch zieht vorüber, der husten schießt darin die löcher. ich seh durch den tunnel nicht, wie nicht durch einen strudel. wird alles zu einer erschwernis, alles, oder nur das meiste. 

das nehm ich mir nicht ab, das nimmt mir niemand ab. 

ich würde so gerne mal aus mir gehen, aber bei jedem versuch muss ich losbrüllen, erstarre nicht nur selbst darauf. man möchte schreien, endlich wieder ungestört schreien. sprechen wir doch lieber über uns selbst.

irgendwo im haus wird sie stecken, dort werde ich sie suchen. 

und ich erzähl mir dabei ein gedicht, die katzen sondern es in meinen augen und schnurren, und kratzen als es zu ende ist. 

menschen treffen: uwe

Manchmal ist man froh, jemanden nicht getroffen zu haben oder zumindest nicht zu einem gewissen Zeitpunkt auf diesen jemand getroffen zu haben. Uwe zum Beispiel. Uwe zum Beispiel, wenn er betrunken ist, wenn er schon lange und vielleicht zu lange in einem Lokal gewesen ist und zuviel Gelegenheit hatte, sich anzutrinken. Meist zeigen sich dabei nicht die schönsten Eigenschaften von Menschen. Alkohol macht auf vielerlei Arten hässlich. 
Und es beginnt immer mit einer ersten Bestellung, einem ersten Schluck, Unterhaltungen, die langsam anlaufen um sich dann immer wieder mehr verlaufen, zunehmend, mit Bestellungen und Gläsern.
Es gibt mehrere Erzählungen davon, was an jenem Abend, an dem man Uwe nicht begegnen wollte, in einem bestimmten, in gewissen Kreisen überaus beliebten Nachtlokal passiert war. 
Auf was sich alle einigen können, ist, dass viel herumgeschrien wurde, dass am Ende einer Auseinandersetzung Wein verschüttet und ein Glas zu Bruch gegangen war. Die Streitparteien tun nichts zur Sache, weil sie selbst nur äußerst subjektiv über den Vorgang zu berichten imstande sind, vor allem verfälscht durch den Zustand der Rage, angefeuert durch den Umstand der Trunkenheit. 
Zwei, drei oder gar vier oder fünf Personen seien in Streit geraten, insbesondere aber eine jüngere Frau habe sich sehr untergriffig über Uwe geäußert. Uwe habe sich herabgewürdigt gesehen, alles habe sich immer weiter aufgeschaukelt, dann wieder beruhigt, dann sei wieder – ganz plötzlich – die Stimmung explodiert, die Aggression sei größer, die Angriffe immer niveauloser geworden, dann wieder die Einigung sich ohnehin nichts zu sagen zu haben. Aber wenn die Ehre erstmal verletzt, wenn diese angekratzt, wenn die Herabwürdigung so im Raum immer noch in der Luft liegt, dann kann das ein Mann nicht auf sich sitzenlassen, wenn die Macht, wenn der Status und vielleicht auch zu schmelzen droht.  Man kennt das: Verletzter Stolz und plötzlich rasten immer wieder Männer aus. Eine seltsame Eigenart von Männern, die im schlimmsten Fall auch zu Morden führt, 2022 gab es in Österreich 28 Femizide. Die Erklärung, dass Männer einfach rauer mit der Welt umgehen oder es ihnen einfach an Intellekt fehlt, gilt nicht. 
Nur wenige Minuten später habe Uwe dann sein Glas Wein über der jungen Frau ausgeschüttet und diese damit nicht nur beschmutzt sondern auch – sozusagen als Ausgleich – herabgewürdigt, im Glauben mit dieser Handlung ein starkes Zeichen gesetzt zu haben. Damit hätte sogleich eine Handgreiflichkeit folgen können, zu dieser sei es aber nicht gekommen, weil die Lächerlichkeit dieser Tat nach dem leeren Wortgefecht dann doch überwog. Auf dieses Niveau wolle man sich nicht herablassen, habe es geheißen. Es wären also nur weitere unschöne Worte hin- und hergeflogen, wie zwei Krähen, die sich gegenseitig ein Auge aushacken wollten. Uwe habe sich aber nicht beruhigen lassen, während die junge Frau, sicher nicht nüchtern, im Gegenteil immer gelassener geworden sei, was Uwe noch rasender gemacht habe, weswegen Uwe dann nicht mehr nur Worte durch die Luft schleuderte, sondern er habe hinterhältigst ein Glas durch das halbe Lokal geschmissen, das die Glasvitrine gerade noch verfehlt, die junge Frau aber doch zumindest gestreift habe. Oder hat sie es doch mit voller Wucht abbekommen? Die junge Frau habe auf jeden Fall den Aufprall gespürt und habe – nicht gleich aber am nächsten Morgen – einen großen blauen Fleck vorzuweisen gehabt. Als Fakten seien aber zuerst mal die Glasscherben auf dem Boden gelegen, die dann von der Kellnerin sogleich weggewischt wurden, damit sich niemand daran verletzen konnte. Die Besitzerin des Lokals habe ihr Wort erhoben und ausgesprochen, dass sie sowas in ihrem Lokal nicht dulde, dass sowas sogleich ein Lokalverbot nach sich ziehe. Die junge Frau sei einsichtig gewesen, Uwe in dem Moment ebenso. Nur am nächsten Tag habe die junge Frau dann nun tatsächlich ganz nüchtern, den Schmerz spürend, über alles nachgedacht und habe den körperlichen Angriff dann doch mit anderen Augen gesehen. Sowas mache man nicht, ein körperlicher Angriff, ein Übergriff würde zu weit gehen. Auch wenn die junge Frau angeblich auch oft nicht zimperlich sei und es schon wiederholt mit Männern aufgenommen habe, die davon ihre Blessuren davongetragen hätten. Vielleicht ist diese Erzählung aber auch nur die Gestaltung eines Mythos, wie man ihn sich in den Nächten in alkoholgeschwängerten Bars weitererzählt.
Grundsätzlich kann man feststellen: Auch wenn die gute alte Tradition sich gegenseitig in die Fresse zu schlagen, wenn man sich nicht mag, als eine Art Kulturgut, das auszustreben droht, betrachtet werden könnte, eine wirklich dumme andererseits aber auch sehr ehrliche Art der Ausseinandersetzung, ist sie wahrscheinlich verzichtbar im Umgang miteinander. 
Uwe erinnere sich übrigens ganz anders an den Vorfall, deswegen habe sich Uwe auch nicht entschuldigt, gar nicht entschuldigen können, denn: für was? Er habe ja nichts getan, nichts Schlimmes, es sei höchstens ein Unfall gewesen und überhaupt: Er sei provoziert worden, da rutsche einem schonmal ein Glas aus der Hand, als Folge einer Art Empörung.
So habe es für Beide keine Konsequenzen gehabt, die Schmerzen der jungen Frau seien aushaltbar gewesen und wären bald wieder zu vergessen gewesen, man müsse ja nicht übertreiben. Manche glauben, sie habe überhaupt nur simuliert und der blaue Fleck sei aufgeschminkt oder stamme von einem anderen Unfall, der nur zufälligerweise zeitlich mit dem Glaswurf zusammenhänge. Die Behauptung des Geschehens wie es geschehen sein, diene eigentlich nur der Rufschädigung. Diese Unterstellung schmerzt die junge Frau jedoch. Denn jetzt könnte man einwenden: Wird sowas nicht ständig Frauen vorgeworfen, wenn sie auf eine Gewalttat hinweisen? 
Jajajajaja. Die Frage stehe im Raum, ob das alles so stimme, die Frage bleibt, was denn nun wirklich stimme, wer denn recht habe, wenn überhaupt jemand recht haben könne. Man wisse es nicht genau, nichts wisse man eigentlich und glauben könne man alles, wenn man will. 
Es habe Wochen später eine Aussprache gegeben, auch darüber wisse man nichts Genaues. Man habe vereinbart, ab sofort Stillschweigen über das Vorkommnis zu bewahren. Uwe würde sowas niemals wieder machen und es tue ihm vielleicht doch leid. Was überhaupt? Man würde jetzt nicht mehr darüber sprechen. 

menschen treffend: gerda

Wahrscheinlich war sie nicht eine der ersten Schaffnerinnen Österreichs, aber es hat sich damals so angefühlt, denn um sie herum gab es nur Kollegen, viele von ihnen, die schon seit etlichen Jahren in den Zügen unterwegs waren. Korrekterweise ist die eigentliche Bezeichnung für ihre Arbeitsstelle Zugbegleiter, oder eben Zugbegleiterin. Als Gerda ihren Dienst das erste Mal antrat, war sie stolz, auch wenn die Arbeitskleidung nicht so recht passen wollte, aber sie war der völligen Überzeugung, das Richtige für sich gefunden zu haben. Zugreisen machten ihr Spaß, sie war vom Bahnverkehr, von Zügen und der ganzen Logistik dahinter fasziniert, schon seit ihrer Kindheit. Das ist die Zeit, wo man sich das romantische Bild des Zugverkehrs aufbaut und Gerda hatte nur wenige Meter von einem kleinen Bahnhof entfernt gewohnt.
Die Arbeit machte ihr Spaß, das Zusammenkommen mit den Kollegen, auch der Kontakt zu den Bahnreisenden. Nur selten gab es unangenehme Begegnungen mit Fahrgästen, die mit allen möglichen Tricks sich ein Ticket ersparen wollten oder sich beschwerten. Beschwerden gab es aus den verschiedensten Gründen: Verspätungen, Halt auf der Strecke, verdreckte Abteile, undeutliche Ansagen, defekte Heizungen, defekte Klimaanlagen, defekte WC-Anlagen, überfüllte Züge, defekte Lampen, defekte Kaffeemaschinen im Bordrestaurant, fehlendes Angebot im Bordrestaurant, lärmende Reisende der 2. Klasse, die auf dem Weg ins Bordrestaurant durch den Waggon der 1. Klasse mussten, defekte Steckdosen, defekte Türen,… Viele der Probleme waren schon vorprogrammiert, denn schon bei Fahrtantritt bekannt und so konnte Gerda sich immer ausrechnen, wie ihr Dienst verlaufen würde. Zumeist konnte das Problem natürlich nicht gleich behoben werden, und in den meisten Fällen war Gerdas Art aber hilfreich dabei, die Auseinandersetzungen zwischen den Reisenden zu moderieren. Zur Seite stand ihr im Zweifelsfall immer ein Kollege, mit dem sie ihren Dienst versah und mit dem sie nach Schichtende immer noch etwas trinken ging, entweder in der Kantine oder in einem der Bahnhofsrestaurants, egal ob es am Nachmittag, nach Mitternacht oder nach einem langen Dienst in der Früh war.
Dann kam die Zeit, in der kein Kollege mehr da war, Dienste führte man alleine durch. Ein Zugbegleiter oder eben eine Zugbegleiterin pro Zug sollte reichen, die Züge waren moderner geworden, es gab nun auch Steckdosen, die defekt sein konnten oder sehr viel später dann unzureichenden Mobilfunkempfang, weniger kleine Abteile und fast ausschließlich Großraumabteile, also Waggons. Alles etwas hygienischer zwar, weil weniger gepolsterte Sitze und mehr Mistkübel, aber eben auch etwas enger, gefühlt. Aber, yeah, die erste Klasse wurde luxuriöser und machte nun ein Drittel des Zugs aus, auch wenn sie fast leer war. Alles etwas stressiger, vor Fahrtantritt, währenddessen und auch danach. Man sollte sich nun um alles allein kümmern können und wo es davor schon schwierig war, den gesamten Zug zu überblicken, wurde es im Alleingang nun noch schwerer.
Gerda kann sich gut daran erinnern, als es sich änderte, die Arbeit nicht mehr so vergnüglich war, da zu der Zeit auch der Bahnhof in der Nähe ihres Elternhauses aufgelassen wurde. Dass dies irgendwann folgen würde, kündigte schon das Verschwinden der Trafik im Bahnhofsgebäude an, bei der sie in ihrer Kindheit immer Zeitschriften und Süßigkeiten geholt hatte, danach folgte das kleine Bahnhofs-Gasthaus, die Toiletten wurden nicht mehr gewartet, dann wurde das Bahnhofsgebäude geschlossen und die Reisenden mussten rundherum gehen, um auf einen der zwei Bahnsteige zu kommen, das Gras rundherum wuchs immer höher. Das war schon eine Zumutung, aber dann folgte die vollständige Schließung und man musste jetzt in den nächsten Ort fahren um mit der Bahn fahren zu können. Die Parkplätze dort blieben allerdings leer, weil die meisten Leute, dann gleich mit ihrem Auto weiter zur Arbeit fuhren. Henne oder Ei? Das ist immer die Frage. Waren die immer schlechter
werdenden Bahnverbindungen schuld daran, dass immer weniger Menschen den öffentlichen Verkehr nutzten oder war es eine logische Entwicklung, weil sich immer mehr Menschen ein Auto oder sogar zwei Autos pro Familie leisten konnten und Preis gegen Leistung und Bequemlichkeit gegenrechneten und sich für das völlig unabhängige Fahrzeug entschieden, das sie jederzeit aus ihren Garagen oder neu gebauten Carports fahren konnten. Wiederum die Frage: Woran lag das? Warum war Bahnreisen scheinbar nicht mehr so gefragt? War es noch attraktiv? War ein Job bei der Bahn überhaupt noch attraktiv und zukunftsfähig oder sollte sich Gerda nach etwas Neuem umschauen?, hatte sie sich gefragt, denn auch die Diensteinteilungen wurden immer unattraktiver und Gerda auch nicht jünger. Gerda blieb. Rundherum wurde sie gleichzeitig auf ihre Privilegien angesprochen, ohne dass jemand wirklich wusste, dass Zugbegleiter in Wirklichkeit unterdurchschnittlich bezahlt wurden, erst Mitte der 60er Sonntags- und Feiertagszuschläge eingeführt wurden, dass die Nachtschichten und die Kälte mit dem Alter nicht leichter zu ertragen waren. Gerda blieb bis zu ihrer Pensionierung, körperlich etwas angeschlagen. Jetzt könnte man sagen, „Ist einfach nichts für eine Frau“, aber auf der Suche nach Personal gibt es immer mehr Zugbegleiterinnen, die, nun mit besseren Outfits, allein durch die undankbaren Gänge der Railjets wandern. Gerda sieht sie. Und Gerda hofft sehr, dass sie beim Streik, der gerade angekündigt wurde, ganz vorne stehen und nachdem die Züge im Land alle mal stehen, sie danach lange noch weiter fahren, wieder besser bemannt bzw befraut – oder wie sagt man?

menschen treffend: bruno

Es regnet. Trotzdem geht Bruno mit seinem Hund spazieren, wie jeden Tag, in der Früh und am Abend die lange Strasse entlang, die aus der Stadt führt, und am Nachmittag den kleinen Hügel hinauf, der nur wenige Meter von seinem Haus entfernt liegt. Die Nachmittagsstrecke hat den kürzeren Weg, dafür ist man schneller bei einer großen Wiese und es gibt keine Autos, die an Bruno und seinem Hund vorbeibrettern. Die Nachmittagsstrecke hat Bruno, erst Jahre nachdem er an den Stadtrand gezogen war, entdeckt. Am Beginn des Hügels steht ein Schild, das auf das Einfahrtsverbot und mit dem Schriftzug „Privatbesitz“ auf das Betretungsverbot hinweist, immer schon und immer noch und mittlerweile sehr verrostet. Irgendwann war Bruno dann die kleine verfallene Straße, die auf den Hügel führt, entlanggegangen und stand nach verwachsenen Hängen und vor sich hin wachsenden Bäumen plötzlich vor einem großen Grundstück mit einem Haus, wobei das Haus kein Haus im herkömmlichen Sinn sondern eher ein Gebäudekomplex war und immer noch ist. Und dieser Gebäudekomplex ist verfallen. Bruno musste erst lernen oder vielmehr googlen, dass dies hier eine Schule war bevor sie vor Jahren aufgelöst wurde. Man kann die einzelnen Teile dieses Komplex erahnen: Den umzäunten Sportplatz mit Fußballtoren, die Wiese mit verwachsenem Tischtennistisch, die Parkplätze, die Klassenzimmer, den Verwaltungstrakt, Werkstätten, eine Wohnung für den Hausmeister und ein Teil, der vielleicht sowas wie ein Internat war, zumindest den Schildern mit „Anlieferung“ und „Küche“ nach zu schließen.  An den Fenstern noch Zeichnungen mit Sprüchen von SchülerInnen, in Englisch, warum sie hier gerne zur Schule gehen.  Wieviel Schüler und Schülerinnen sind hier wohl täglich zur Schule gegangen? Wieviele haben hier übernachtet? Und warum, verdammt nochmal, ist dieser Ort sich selbst überlassen worden? Alles hier ist dem Vergessen, dem Verwittern und offensichtlich auch jenen überlassen worden, die mit den Jahren ihre Graffitis und Reifenspuren hinterlassen haben, jenen, die wahrscheinlich auf der Suche nach Abenteuer, Fensterscheiben eingeschlagen und Türen geknackt haben. Man hört, mittlerweile gäbe es eine Kameraüberwachung und ein Alarmsystem und die Polizei würde regelmäßig vorbeischauen. Die Polizei hat Bruno hier allerdings noch nie gesehen und die Frage stellt sich natürlich, für was diese überhaupt kommen sollte, wenn sich der Besitzer offensichtlich nicht um diesen Gebäudekomplex, der soviel Potential hätte, kümmert. Am Haupteingang prangt immer noch ein Schild der Immobilienverwaltung des Landes, die das alles angeblich jedoch schon längst verkauft hat. 
Es ist unglaublich, das denkt sich Bruno jedes Mal, wenn er mit seinem Hund hier raufspaziert. Hier könnte alles belebt sein, eine neue Schule einziehen, ein Veranstaltungszentrum die Gegend beleben, man könnte Wohnungen schaffen, wenn es doch angeblich einen so hohen Bedarf in dieser Stadt gibt, oder man könnte Leute unterbringen, die Schutz suchen, Kinder, die raus aus ihrer Familie müssen, Frauen, die raus aus ihrer Ehe müssen, Menschen, die keine Wohnung haben oder Menschen, die aus ihrem Land rausmussten und Schutz in unserem Land suchen. Keinen Kilometer Luftlinie entfernt liegt tatsächlich ein Flüchtlingsheim, wobei man diese Flüchtlingsunterbringung, die entlang einer Landstrasse völlig im Nirgendwo errichtet wurde, eher ein unattraktives Containerdorf nennen müsste, das, wie man hört, in den letzten Tagen nun auch mit Zelten erweitert wird. Jetzt regnet es, aber bald kommt der Winter und der Schnee und die Kälte, denkt sich Bruno, und die Menschen werden in Container und Zelte gesteckt. Und fast in Sichtweite liegt, über den Fluss ein riesiges leerstehendes Haus, nein, mehr als ein Haus, das tatsächlich Unterschlupf und auch einen gewissen Standard bieten könnte. Was ist bloß los mit unserer Gesellschaft?, denkt sich Bruno, eigentlich jeden einzelnen Nachmittag, wenn er seine Nachmittagsstrecke mit seinem Hund dahinspaziert. Es ist eine Schande. 
Und Bruno erinnert sich, nicht nur wie sondern auch warum er neugierig das erste Mal diesen Hügel raufspaziert ist. Tage davor hatte er in seinem Briefkasten einen Zettel gefunden, darauf war eine blutrote Hand und das Wort „STOPP“ abgedruckt, und „Gegen das Asylquartier in unserem Stadtteil“. Es war ein Flugzettel der Sozialdemokratischen Partei; und Bruno hat seinen Augen nicht getraut. Mit einem Schlag war sein Bild von der Partei, die immer für die Schwachen, die Entrechteten kämpfte, sich für Menschenrechte und Gerechtigkeit eingesetzt hatte, in sich zusammengefallen. Es war also diskutiert worden, dass an dieser Stelle ein Quartier für Asylwerber errichtet wird und die in dieser Stadt mit Mehrheit regierende Partei hatte dagegen propagandistisch agitiert. Unglaublich, denkt man sich, aber Bruno hat den Flugzettel aufgehoben, es ist seine Erinnerung daran, dass jede Fassade bröckelt sobald man nur einen kurzen Blick dahinter macht. 
Letzte Woche ist Bruno das erste Mal in den Gebäudekomplex eingestiegen, kein Alarm, keine Kameras in Sicht, keine Polizei. Das Gebäude ist innen wie außen noch gut in Schuss, man müsste es nur etwas renovieren. Ja, beim Gebäudekomplex bröckelt noch nichts, ein wenig Vogelscheiße in den Ecken, zunehmend mehr eingeschlagene Fenster, die Graffitis werden mehr und aber eher uninspirierter. Es ist dem Verfall offensichtlich preisgegeben, der Verfall ist vielleicht einkalkuliert, Bruno fragt sich, auf was hier spekuliert wird. Und Bruno fragt sich, ob er, obwohl sonst nicht so radikal, nicht einfach Feuer legen sollte, damit dieser Schandfleck, der eigentlich etwas völlig Anderes sein könnte, endlich verschwindet und man auf der Asche dann zumindest der Natur die Chance geben könnte, sich auszubreiten.

menschen treffend: sepp

Ganz Seltsam steht er plötzlich da. Zuvor schon hatte ein außergewöhnlich aggressives Bellen eines Vierbeiners sein Erscheinen angekündigt. Sepps Auftritt durch das Gartentor, aus dem Garten, der natürlich von einem hohen Zaun umgrenzt ist, wirkte dagegen eher banal. Schließlich ist Sepp auch nicht mehr der jüngste, mit grauem Haar, auch wenn er sich noch auf seinen zwei Beinen hält und sich gleich zu seiner ganzen Größe aufbauen und loskläffen muss. Das hat er wohl von seinem Hund gelernt – oder umgekehrt.
Der Autofahrer hatte nicht geahnt, dass ein kurzes Halten in der doch wirklich sehr engen Straße, die fast direkt am See entlangführt, gleich einen seppschen Tobsuchtsanfall hervorrufen würde, schließlich konnte er nicht wissen, dass in dieser Ruhe des Sees solche Schreihälse ihr Heim errichten. Der Autofahrer hatte doch tatsächlich, weil er sich verfahren hatte, direkt vor dem Haus von Sepp angehalten, die unzähligen Verbotsschilder zwar sehend aber einfach auch nicht weiterwissend. Und keine zwei Minuten mit dem Auto stehend und sich umschauend, steht da plötzlich Sepp, das Gekläffe in seinem Rücken. Sepp muss an diesem Sonntag vormittag also extra seine aktuelle Betätigung unterbrochen haben, da noch winterlich, einen warmen Pullover übergezogen und seine Stiefel angezogen haben, um durch seinen Garten vor sein Gartentor zu schreiten um den Autofahrer schreiend mitzuteilen, dass hier, vor Sepps Haus, ein absolutes Park- und natürlich auch ein Halteverbot herrsche. Das ist nämlich Sepps kleines Reich, in Sicht- und eigentlich auch tatsächlicher Reichweite des Sees, in dieser schmalen Straße, die fast direkt am See entlangführt., wo Sepp auf seinem Grund steht und beharrt. Nun hat nur leider auch der Autofahrer für höchstens 2 Minuten aus einem verständlichen Grund, der schnell erklärt wäre, kurz gehalten und stand also ebenso nicht nur mit dem Fahrzeug sondern auch mit den Beinen auf diesem schmalen Grund vor dem Haus des Sepp, ein Grundstreifen, der fast wie eine Erweiterung der sehr schmalen Straße wirkt. Der Autofahrer will natürlich etwas sagen, aber der Sepp ist schnell in Rage, und so steigt der Autofahrer wieder ein und will weiterfahren. Aber das kann so ein Sepp natürlich nicht zulassen, wo wäre er denn da. Und so reißt Sepp, wohl merkend, dass am Rücksitz auch ein kleines Kind sitzt, das mit seinem autofahrenden Vater eigentlich eine Geburtstagsparty gesucht hatte, aber sich mit seinem Vater mitverfahren hatte, die Fahrertür des Autos auf und schnaubt ins Fahrzeuginnere. Corona, Corona, denkt sich der autofahrende Vater, aber Sepp scheint ohnehin ein Typ, der keine Angst vor einem Virus hat und auch nicht zögern würde, ihn weiterzugeben. Der Autofahrer könnte mit seinem Auto und seinem Kind schon längst weiterfahren, aber der alte Sepp hängt in der Tür, doch dann schafft der Autofahrer es doch, die Tür zu schließen und das Auto zu starten um von diesem durch und durch rasenden Temperament von Sepp davon zu fahren. Wütend, aber auch ein wenig stolz steht Sepp dann noch da, nach gewonnener Schlacht vorm Gartenzaun, und dann schlendert Sepp wieder auf seinen Grund und Boden. 


Das ist also aus dem alten Sepp geworden: Ein alter, noch immer wütender Gartenzwergnazi, könnte man feststellen. Typisch.
Man mag sagen, bekannt ist Sepp aus anderen Gründen, aber was sich vor dem Haus abspielte, ist schon auch bezeichnend für Sepp, man kennt ihn nicht anders. Angriffig, untergriffig, ein reinrassiger Köter, der ruhig sitzt und dann plötzlich zuschnappt. Chefideologe wird er genannt, Ideologe einer Partei, die auf die niedersten Instinkte und die einfachsten Erklärungen setzt. Als solcher läuft er nun schon jahrzehntelang schnappatmend herum, philosophierend über Überfremdung und nationale Gefühle. Doch nicht nur als richtiger Idiologe sondern auch als Politiker war er lange im Einsatz, neben seiner Tätigkeit als Verleger und Journalist, wenn man das so nennen kann, wo er seine kruden Weltsichten in Artikeln unter falschem Namen und Meinungsspalten schon mit einer Agenda unters Volk brachte als das Wort Fake News noch gar nicht in aller Munde war., die Grenzen des Sagbaren und auch die Grenzen des Verbotsgesetzes gerne auslotend. Sepp ist natürlich ein Deutschnationaler, gestützt durch Verbindungen, der den sehnsüchtigen Traum vom großdeutschen, volksgemeinschaftlich geschlossenen und abstammungsgemäß reinen Hoheitsgebiet nicht nur nie aufgeben will sondern sich auch ständig aktiv darum bemüht, andere zu finden, die ähnlich wie er fühlen. Sepp hält sich gern im eng umschlungenen Männerkreis auf, aber natürlich streng heterologisch. 
Sepp ist auch Autor, er schreibt Bücher mit seinen vielen Gedanken, wie er die Welt sieht, und wie ihm die Welt so nicht gefällt und deshalb hat er Vorschläge, wie das – für ihn und seinesgleichen – besser laufen könnte. Sepp schlägt auch gern nach, in historischen Wälzern und Zeitgeschichten. Wenn Sepp heute immer noch vom „Establishment“ spricht, das auf ihn, den aufrechten Nationalen eine Jagd betreibe, klingt der alte Sepp wie ein trotziger Teenager, der sich gegen die Welt auflehnen will, fest stehend auf seinen Werten und die antiquierten Worte ausspuckend, die ihm zur Verfügung stehen. 
Sepp ist besonders Dichter, seine angestaubte…. seine angestaute Poesie muss in die Welt, denkt er, und auch auf seine Dichtung kann man sich einen Reim machen, einen unzensurierten Blick in seine tiefe Seele machen, wagen, wagemutig. Sepps Lieblingsvorsilbe ist im übrigen „Un“, auch sie begleitet ihn schon durch sein ganzes Leben, treu, wie kaum etwas anderes. Unglaublich, ist aber so. Sepp, der Un-, ein absoluter Un-, eigentlich ein unmöglicher Mensch. 
Wo hat sich Sepp bloß verirrt? In seinen Blätterwald. In seine Ideen. In sich und in sein eigenes, kleines, hochumzäuntes Reich, das Tradition genauso laut schreit wie Besitzstörung, am dunklen See, im Anblick des rauen Berges.
Jetzt, an diesem Sonntag Morgen, betritt Sepp nun wieder sein Haus, wissend, dass sein Besitz nun aktuell wieder nicht bedroht ist, kein Autofahrer in Sicht, nur diese enge, sehr sehr enge Straße, die zu seinem Haus führt. 
Und da ist dieser Geruch, der, wenn Sepp an sich herabschauen würde, nur von dieser Masse an seinen Schuhen herrühren kann, einer braunen, stinkenden, unglaublich großen Menge an Scheiße, die an ihm klebt.