menschen treffend: ali

Da sitzt jemand und trinkt Wasser aus einem Plastikbecher. Er sitzt und hält sich im Hintergrund, während nach und nach Leute zur heutigen Vernissage eintreffen, gut gelaunt sind sie, vielleicht schon etwas angeheitert, gut angezogen sind sie, aber das tut nichts zur Sache. Nennen wir ihn mal Ali, den mit dem Wasser, weil Ali passt gut für jemanden, der nicht so aussieht, wie der durchschnittliche Österreicher und nüchtern die Szenerie betrachtet. Aber er könnte auch Mohammad oder Morteza heißen, er könnte als Frau auch Sahar oder Medina oder Soghra oder auch ganz anders heißen, im ersten Moment fremd klingend, wenn man den Namen hört, ungewohnt. 

Die wenigsten wissen wahrscheinlich, wie dieser Mann in der Ecke heißt, niemand weiß, dass er vor einer halben Stunde noch den Boden gekehrt hat, auf dem jetzt alle laufen, die Glühbirne beim Eingang der Galerie ausgewechselt hat – und war das auch Ali, der die Becher noch schnell besorgt hat? 

Ali ist ein sogenannter Asylwerber, also jemand, der nach der Flucht aus seinem Land in diesem Land um Asyl angesucht hat, also um Schutz, um einen Aufenthaltstitel, um eine neue, eine bessere Perspektive als die vergangene. Wir haben mittlerweile viele Alis im Land, manche sagen „zuviele“, andere stören sich nicht daran auch mal jemand anderem zu begegnen als Manfred oder Gerhard oder Sebastian. 

Als im vergangenen Jahrhundert die Gastarbeiter kamen, nein, gerufen wurden, waren sie nützlich, auch sie hatten für die Mehrheit ungewöhnliche Namen, aber sie erledigten ihren Job, meist die Drecksarbeit, sie durften nicht nur arbeiten, sie mussten arbeiten, schließlich waren sie genau dafür da. Ali wurde nicht gerufen, er ist gelandet, nicht im Flieger sondern per Zufall. Und jetzt ist er da und sitzt in der Ecke und schaut vor sich hin, etwas deplatziert, am Rand. Ali darf nicht arbeiten, zumindest solange nicht, bis er mit seinem Wunsch nach Akzeptanz (denn viel mehr ist es erstmal nicht) für sich und seine Familie erfolgreich ist. Dann dürfte Ali erstmal bleiben, wäre geduldet, dürfte sich vielleicht auch nach einem Job umsehen. Was war Ali eigentlich von Beruf, in dem Land aus dem er kam? Schneider, Marktschreier, Frisör, hatte er seinen eigenen Laden, war er irgendein Arbeiter? Oder war er gar Arzt? Macht erstmal keinen Unterschied, denn egal, was er gelernt hat, er dürfte es ohnehin nicht anwenden. Noch nicht. Und welches Land hat er überhaupt verlassen? Iran, Irak, Afghanistan? Das weiß niemand so genau. Das Übliche oder doch etwas Außergewöhnlicheres?  Irgendein afrikanisches Land? Nein, so sieht er nicht aus, dafür ist seine Hautfarbe dann doch zu hell. Man könnte ihn natürlich fragen, dann würde er es auch sagen, denn schließlich kann er mittlerweile auch ganz gut deutsch sprechen, besser vielleicht als mancher Einheimischer. Ja, Ali kann auch sprechen, vermutet man gar nicht, weil er ja in seiner Ecke nichts sagt, wenn man ihn nicht direkt anspricht. Dann käme er langsam mit der Sprache raus, könnte man jetzt denken. Was wohl in seinem Kopf vorgeht, könnte man sich fragen. Vielleicht die Anhörung zu seinem Asylverfahren, die ansteht. Oder er denkt an seine Kinder, die jetzt langsam zu Bett gehen werden, während die Ausstellung erst zu eröffnen sein wird. 

Ali weiß das nicht, aber er ist ein wesentlicher Teil dieser Ausstellung, nicht als Ausstellungsobjekt oder Kunstwerk, nein, seine Hilfe bei der Vorbereitung macht ihn zu einem wichtigen Glied in der Kette für einen gelungenen Abend, an dem auch gefeiert werden soll, was Ali ebenso nüchtern betrachten wird. Er ist ja so brav und darüber hinaus auch noch höflich. 

Jajajajaja, Ali der gute Ausländer, der arme Ausländer, der freundlich lächelt und seine eingeübten Stehsätze zum Besten gibt, dem man dankt, in dieser Runde aus einer gewissen politischen Korrektheit auch, weil es ist ja so wesentlich und höchst an der Zeit, dass alles etwas durchmischter wird und bunter (Kotz!) und die fremden Kulturen uns bereichern. Alles so spannend, man denke sich die begeisterten Kommentare dazu. Man denke an das Essen und die Musik und die Dichtungen… 

Man denke: Vielleicht ist Ali auch ein Arschloch, vielleicht verachtet er die ganze Gesellschaft, hier, wo Wein Glas um Glas hinuntergeschüttet wird, diese Dekadenz, vielleicht würde er die Szenerie liebend gerne verlassen oder sprengen, hoffentlich nicht im wörtlichen Sinn. Man weiß ja nie. Vielleicht kann er gar nicht dankbar sein, dafür, dass er jetzt hier sitzt, sitzen darf, als einer von vielen, wenn auch nicht als einer von ihnen. Vielleicht freut er sich schon darauf, das alles hinter sich zu lassen, sobald er einen positiven Asylbescheid hat, wieder etwas hinter sich zu lassen, schließlich hat er auch sein Heimatland so leichtfertig verlassen. Könnte man denken, könnte man sich vorstellen oder unterstellen. Würde es einen Unterschied machen? Also wenn es so wäre, dass Ali nicht, in seine Gedanken versunken, traurig sondern wütend wäre, wenn er auch nicht dauernd Lust hätte, freundlich zu sein. Wenn er sein scheiß Wasser am liebsten durch den ganzen Raum spritzen würde, weil er in einem Moment auch nicht so genau weiß, wie er steht, wie er fühlt, wie er all sein Fühlen und Denken, wie er all seine Erfahrungen – die alten und die neuen – verarbeiten soll. Wahrscheinlich würde ihm dieser Ausbruch nicht so leicht verziehen. Das würde Ali völlig anders dastehen lassen. Ganz sicher auch, wenn man draufkommen würde, dass Ali gar nicht Ali heißt sondern Mohammed oder Pedram oder irgendwie anders, und dass seine Fluchtgeschichte nicht viel mehr ist als eine Story, eine Geschichte, die ohnehin schon immer viel zu sehr anderen Geschichten von Flüchtigen glich. Vielleicht ist Ali auch ein gesuchter Terrorist oder zumindest ein potentieller. Vielleicht schlägt er seine Frau und seine Kinder. Dann haben das wahrscheinlich auch alle schon geahnt oder vermutet. Alles nur vielleicht, viel zu leicht gleitet man in Überlegungen ab, die auch nichts anderes sind, als Erzählungen, die man sich aus den Medienberichten selektiert hat. 

Der da sitzt und sein Wasser in aller Ruhe ausgetrunken hat, heißt aber Ali und er hat auch einen Nachnamen und er hat eine Vergangenheit und er sollte eine Zukunft haben, die man sich besser ausdenken sollte. Man weiß viel zu wenig noch über Ali. Das könnte man ändern, man müsste ihn nur mal ansprechen, von Mensch zu Mensch. 

menschen treffend: markus

Zufrieden blickt Markus aus dem Fenster. Vor zehn Minuten hat sein Wecker geklingelt, vor fünf Minuten hat er den Kaffee aufgestellt und trinkt jetzt schon den ersten Schluck. Es ist bereits hell, die Sonne scheint durch das große Fenster zum Garten, und Markus lehnt sich in seinem Holzstuhl zurück. Eigentlich könnte Markus jeden Tag ausschlafen, hat er sich in den letzten Jahren doch den Status erarbeitet, dann tätig zu sein, wann er will, aber er will einfach ständig. Getrieben nicht nur von „Nutze den Tag“ sondern „Nutze jede Gelegenheit“. Er lebt noch nicht lange in dieser Idylle, mitten in der Stadt, mit seinem Garten und dem leeren Haus, das ihm die Besitzer, die ihre Wohnung im Erdgeschoss fast nie nutzen, überlassen, in der Wohnung, die ihm sein Vormieter mit all der Einrichtung übergeben hat, weil dieser Vormieter nach der gescheiterten Ehe und der Scheidung die Ausstattung nicht mit in seine neue, sehr kleine Wohnung nehmen wollte oder konnte und Markus sie sehr bereitwillig übernahm. Dafür musste Markus nichts zahlen, quasi alles ein Schnäppchen. Eigentlich sollten sein Sofa, seine Stühle, sein Bücherregal und all seine anderen Möbelstücke noch die Atmosphäre der Vorbesitzer versprühen (vielleicht auch ein Übermaß an negativer Energie), aber Markus hat es sich so richtig gemütlich gemacht. Alles von ihm eingenommen, als ob es schon lange, immer schon in seinem Besitz wäre, als ob selbst der Fleck an der Wand von Markus mit seiner eigenen Geschichte begründbar wäre, wahrscheinlich hat er auch tatsächlich schon eine gute Erklärung dafür. Markus hat seit dem Einzug kein einziges Mal daran gedacht, neu auszumalen. Es passte alles exakt so, passte für ihn. Lange Zeit verbrauchte er auch noch das Spül- und Waschmittel, die Putzmittel. Die schönen Handtücher, die seine Vormieter zur Hochzeit bekommen haben, benutzt er allerdings als Putzfetzen. 

Markus trinkt seinen Kaffee und streichelt seinen Massivholztisch, seinen Laptop hat er noch nicht aufgeklappt, dafür braucht er noch ein paar Momente um ganz wach zu sein, so aufgeweckt wie die Fliegen vor seinem Fenster. 

Einleben, sich ganz und gar einleben, Einnehmen, das Übernehmen ist Markus´ spezielle Eigenschaft. Wie er in seiner Second Hand-Jogginghose und seinem Second Hand-Pullover dasitzt, aus der ihm überlassenen Tasse trinkt, seine nackten Füße in den abgenutzten Wollteppich gräbt, würde man nicht vermuten, dass all das mal einen anderen Besitzer hatte. Was Markus berührt, scheint durch den Kontakt mit ihm wieder einen neuen Glanz zu bekommen. Schwer nachvollziehbar. Es wird der Kontext sein, Markus setzt ebensoviel Kontexte wie er Konzepte schreibt. Darin besteht seine Hauptaufgabe, seine Beschäftigung, oder wie auch immer man das nennen möchte, denn das Verfassen von Einreichunterlagen für Unterstützungen bei diversen Fonds und Wirtschaftsförderstellen und Papers, die er Leuten im persönlichen Gespräch in die Hand drückt, ist nichts, was man als üblichen Job sehen kann. Ein Formulierungsbusiness, ein Fabulierungsbusiness, ein ständiges Start-Up. Markus stellt nichts her, er stellt dar und damit macht er sein Geld. Laufend neues Geld, neue Geldflüsse, für Scheinprojekte, die kaum angekündigt auch schon erledigt sind und zwar so, dass sie nach außen tatsächlich finalisiert wirken, und schon weiterverkauft sind. Ein Kunststück, was Markus hier immer wieder aufführt, man könnte es eine subversive  Vorgehensweise nennen oder auch einfach dreist, knapp am Rand zum Verbrechen. Sein Produkt ist letztlich er selbst, ein gepflegtes Produkt im shabby look, ein ausstrahlendes Produkt, spätestens wenn er seine Wohnung verlässt, um zu einem Termin zu eilen. 

Er lebt mitunter davon den Markt genau zu beobachten, Tendenzen, die erkennbar sind, zu spüren und dann im richtigen Moment zuzugreifen und zu übernehmen und dem Begriffenen eine Aufwertung zukommen zu lassen. Schwer erklärbar, wie er das genau macht, aber das ist vielleicht sein Geheimnis. Fast wie ein Raubtier stürzt er sich in Unternehmungen, mit aller Kraftanstrengung und Konzentration, konkret mit Networking, zahlreichen Gesprächen und ständigen Telefonaten, dabei überrumpelt er in den für ihn günstigen Momenten die Schwachstellen in Systemen, respektive:  er nützt sie aus. Markus als der Inbegriff eines guten Beobachters, der nur auf den richtigen Zeitpunkt wartet. Und wer kann ihm schon verdenken, dass er so listig ist. Steht ja jedem offen, ähnliches zu versuchen. Wenn man ihn fragt, was er zur Zeit so treibt, ist die Antwort immer, dass es Projekte wären (immer die Mehrzahl, immer zahlreiche gleichzeitig), die ihn beschäftigt halten. 

Das Geheimnis hierbei ist,, immer sofort zu delegieren, immer über anderen schweben, und von dieser Position aus dann all das anzuschaffen, was konkret zu machen ist, natürlich immer unter seiner Aufsicht. Markus arbeitet nicht, es ist mehr ein Vergnügen, er lässt arbeiten, es ist vielmehr ein Dirigieren, wie ein begabter Musiker mit empfindlichen Händen. Markus fuchtelt tatsächlich oft in der Luft herum. Frischluft, denkt Markus, auf seinem Holzstuhl sitzend, Wo war ich?, denkt er sich, Achja, Kaffee.

Durch das große Fenster zum Garten und Hof hat er die Vögel im Blick, wie sie zwischen den Apfel- und Birnenbäumen wechseln, mit der leichten Sorge, dass sie ihm eventuell die Ernte streitig machen könnten. Mit der Macht seiner Gedanken versucht er die fliegenden Geschöpfe zu beeinflussen und denkt für Momente, dass es tatsächlich klappt. 9:36, er versucht einen ersten Anruf, erreicht noch niemanden, was ihn etwas ärgert. Also wird sein Laptop aufgeklappt und seine, Nein, eine erste Email geschrieben, wie immer beschränkt er sich dabei nicht auf ein paar Zeilen, sondern arbeitet auf eine Lesezeit von mindestens fünf Minuten und eine Verständniszeit von 10 Minuten hin, die allen Beteiligten eine gewisse Konzentration abringt und diese vielleicht auch verwirrt, weil man bei Markus auch immer zwischen den Zeilen lesen muss.  Er schickt sie ab. Von nun an wird er den ganzen Vormittag damit verbringen auf den Bildschirm zu starren, in Erwartung von Antwortmails. Und wenn diese dann kommen, wird er tatsächlich glauben, er habe mit der Kraft seiner Gedanken die Reaktionen hervorgerufen. Und dann kommt auch der Rückruf. 

menschen treffend: angela

Wie lange geht das jetzt schon? Viel zu lange, dauert diese Videokonferenz an, wie immer, ändert sich nichts oder nur schleppend. Angela starrt angestrengt auf den Monitor, Zahlen werden vorgelesen, die sie nicht betreffen und auf die sie keinen Einfluss hat, es werden Einzelheiten besprochen, die sie nicht interessieren und ausgeschweift, an was sie noch weniger Interesse hat. Angela denkt daran, dass sie, wenn sie ihre Kamera endlich wieder abschalten kann, noch die Küche zusammenräumen muss, all das, was vom Mittagessen übriggeblieben ist,  und anschließend direkt das Abendessen machen sollte. Sie hat sich noch nicht mal überlegt, was sie kochen könnte, was überhaupt noch im Kühlschrank ist. Und Angela hofft, dass Leo nicht ins Zimmer kommt, weil er sich wehgetan hat oder sie ihm bei irgendwas helfen muss. Angela weiß, dass es nicht ideal ist einen Fünfjährigen vor ein iPad zu setzen, aber erstens liebt er dieses Autospiel, bei dem man sich nicht nur selbst sein Auto zusammenschrauben sondern auch die Fahrer und Fahrerinnen einkleiden kann, momentan wirklich und zweitens hat sie gerade keine andere Wahl. Eine Zeit ungestört zu sein, ist wirklich eine Herausforderung. Sie versucht die Bildschirmzeit zu begrenzen, zumindest die ihres Sohnes. 

Es ist nicht so, dass Angelas Anwesenheit jetzt für diese Videokonferenz unbedingt notwendig wäre, ihre Hauptaufgabe besteht darin, Anwesenheit also ihr Gesicht zu zeigen, aufmerksam zu wirken, ab und an zu nicken. Sie wartet darauf, dass sie gefragt, dass ihr Mikrofon freigeschaltet wird und sie ihre paar Sätze möglichst reaktionsschnell kompetent in die Runde sprechen kann. Angela betrachtet die Hintergründe der anderen Teilnehmer, Ledersessel, große Bilder, Bücherwände. Es ist eine weitere Besprechung, es folgt bloß immer wieder ein weiteres Thema, bei dem sie überflüssig ist, wie auch die Videokonferenz an sich. Hier geht es höchstens darum, dass sich das Führungsteam gegenseitig auf die Schulter klopft und sich versichert, unglaublich viel zu arbeiten. Angela weiß, hier spielt sich eine Gruppe gegenseitig etwas vor. Sie merkt, wie im Direktchat gemeinsame Tennis- oder Golfrunden (so genau kann sie es nun auch wieder nicht erkennen) ausgemacht werden, wie sich zwischendurch die Herren in ihren Anzügen zuzwinkern und „confirmen“. Eigentlich verwunderlich, dass sich niemand eine Zigarre anzündet oder zu seinem Whiskeyglas greift, um einander brüderlich zuzuprosten. Das könnte allerdings auch an ihrer Anwesenheit liegen und dass Angela ja auch noch kurz was beitragen soll. Zumindest kann sie über die Distanz nicht zum Kaffeeholen geschickt werden, ist auch schon vorgekommen, dass sie in dieser Männerrunde im Besprechungsraum in der Firma saß und sie dann gebeten wurde, um Kaffee zu holen. Wie selbstverständlich gingen alle davon aus, dass am ehesten noch sie den Weg in die Kaffeeküche auf sich nehmen könne, nachdem keine Sekretärinnen mehr in der Firma waren. Angela ist viel (ihre Aufgaben haben sich in den letzten Jahren immer mehr erweitert), aber ganz sicher keine Sekretärin, steht nicht in ihrem Vertrag. Gehobene Stellung in der Firma, viele Vorzüge, ein gutes Gehalt, wobei sie sich nicht ganz sicher ist, ob ihr Gehalt im Vergleich nicht doch etwas niedriger als das der anderen in ähnlicher Verantwortung ist. Sie ist die einzige Frau, die Teil der „Führungsrunde“, wie das auch intern benannt wird, ist. Aber Quotenfrau ist sie keine, dafür wäre allein sie auch zu wenig um tatsächlich eine Quote sichtbar zu machen. 

Eingestellt wurde sie schließlich vor einigen Jahren vor allem wegen ihrer Erfahrung, die sie während des Jura-Studiums bei diversen Praktika in hochkarätigen Anwaltskanzleien sammeln konnte und ihrer Fähigkeit komplexe Problemstellungen zu überblicken und zum Wohle der Firma zu lösen. Oder nicht? In manchen Momenten ist sich Angela nicht so sicher, dass dies der Grund war, wobei sie sich selbst exakt die Fähigkeiten selbstbewusst zuschreibt. Oder doch nicht? 

Angela ist doch eine starke Frau, oder? Zumindest wird sie immer wieder als solche bezeichnet. Vielleicht allerdings nur, weil sie durchhält, weil sie ständig ihr Bestes gibt, weil sie stets darum bemüht ist, alles zu verstehen und umzusetzen oder vielmehr zu übersetzen, was ihr vorgegeben wird. Vorgesetzt stets von Männern, die auch Angelas „weibliche Intuition“ schätzen, wie sie sagen, was übersetzt soviel heißt, dass Angela sich bemüht in die Perspektiven der Männer hineinzudenken, fast schon vorauszudenken. 

Angela versucht nicht verunsichert zu wirken, als indirekt über sie gesprochen wird, dass gerade in der Rechtsabteilung die Performance etwas verbessert werden müsste. Sie wurde nicht erwähnt und hatte trotzdem aufgehorcht, denn natürlich war sie gemeint, auch wenn es ihr niemand direkt ins Gesicht sagen wollte, offensichtlich. Angela sieht sich im Videobild, sieht sich genau an, ihre Haare, die sie sich ordentlich zurecht gemacht hat, die Bluse, die sie vor der Konferenz noch schnell gebügelt hat, sie sieht ihre Sorgenfalte auf der Stirn und versucht sie sich weg zu massieren. Sie blickt sich an und merkt, wie sich langsam Tränen ankündigen, verzieht ihr Gesicht im Kampf, dies zu verbergen. Wie kam das so plötzlich?, fragt sie sich, ringend. Die Männerrunde starrt sie an, wie sich ihr Gesicht etwas verkrampft, wie sie sich über die Wange streift, wie sie unsicher umher blickt. Vielleicht sollte sie jetzt was sagen, vielleicht wurde sie eben etwas gefragt, sie weiß es gerade nicht. Für einen Moment schaut sie nochmal in die Runde, sagt schnell „Verzeihung“, klappt ihren Laptop zu und verlässt ihre kleine Homeoffice-Kammer.

Es geht hier nicht um Gleichberechtigung (Was heißt das schon? ), das zumindest weiß sie. Und Angela will einfach nur so behandelt werden, wie alle Anderen auch. Dabei besteht sie nicht darauf, auch mit zu den Nachbesprechungen in den teuren Restaurants genommen zu werden (die Firma übernimmt natürlich einen Teil der Rechnung), die Zeit hätte sie nicht mal, weil ihr Sohn zuhause schon auf sie wartet, weil sie ihre Mutter ablösen sollte. Es geht ihr nicht um die Tennisclubs und auch nicht darum gemeinsam mit den anderen mit jovialer Verständlichkeit durch die Welt zu gehen. Sie will noch nicht mal mehr Macht, keinen höheren Posten, keine Aufstockung ihrer Abteilung und Aufwertung von ihr als Führungspersönlichkeit. Sie will nicht den Posten von jemand anderen, was ihr auch schon unterstellt wurde, sie will nicht irgendwann in den Vorstand, in die oberste Etage in ein noch größeres Büro und dort jemanden ersetzen. 

Ja, Angela hat eine ruhige, bescheidene Art, zumindest wird sie so beschrieben, aber in ihr kocht schon lange ein wütender Vulkan. Angela würde, wenn sie könnte, nicht nur den Vorstand abschaffen sondern auch die großen repräsentativen Büros sowie die Bedeutung der obersten Etage. Angela würde, wenn sie bestimmen dürfte, vielleicht endlich mehr Frauen ins Unternehmen holen, auf allen Ebenen oder ohne die Ebenen. Und deswegen arbeitet sie bereits subtil an dieser Art der Revolution, die vielen Männern berechtigterweise den Kopf kosten wird. Und da kommen Angela nun tatsächlich die Tränen, klugerweise nicht mehr vor laufender Kamera. Es sind allerdings Tränen der Vorfreude. 

menschen treffend: friedrich

„Gerne Termin geben! Kann mir kleine Unterstützung sehr wohl vorstellen! Werde aber keinesfalls der Neidgenossenschaft Vorschub leisten und mir schon gar nicht vorschreiben lassen wem, wo, wie und warum wir fördern!“ Noch schnell, zwischen zwei Terminen, schickte Friedrich diesen Kurzbrief als Mail ab. Eigentlich hätte das eine interne Notiz sein sollen (ablesbar auch daran, dass Friedrich sie nur mit seinem Vornamen zeichnete), Friedrich sendete sie aber an jene unfähigen Häuselbauer, die gerne ein Luftschloss errichten würden und dafür auch noch einiges an Unterstützung haben wollen. Unabsichtlich, ein großes Versehen, ein grobes auf jeden Fall. Rufzeichen sind Anzeichen, zeigen hier einen unguten Befehlston an, den man Friedrich so gar nicht zugetraut hätte. Viel zu beherrscht tritt er normalerweise auf, als jemand, der eher verbindet als trennt – so ist er zumindest angetreten. Aber nun ist er schon einige Jahre im Amt, vielleicht ist dies auch nur Ausdruck einer gewissen Müdigkeit. Die Zeit frisst bekanntlich am Gemüt, wie der Stress, man kann sich ja nicht um alles kümmern, müsste aber und will eigentlich auch. Dazu gehört auch, dass man Entscheidungen trifft, auch die unangenehmen, den Weg weist und auf diesem Pfad kann man es natürlich nicht jedem Recht machen. Und was sind schon Vorgaben und Kriterien? Was sind schon Gesetze?  – Auch nur ein Spielraum, den man leichtfüßig dehnen kann. Man hat einfach mit so viel Problematiken zu tun, mit soviel problematischen Interessensgruppen und irgendjemand ist letztlich immer unzufrieden. Alle wollen immer nur haben, haben, haben. Die wenigsten wollen geben, das ist auf die Dauer auch frustrierend, damit muss man klarkommen. Friedrich nimmt den Frust auf sich, ohne mit der Wimper zu zucken, dafür steht er mit seinem Namen. Er hält die Gemeinde zusammen.

Klar, ist es oft schwierig die Balance zu halten. Ausgleich findet Friedrich aber in seiner Familie, der Natur, beim Spaziergang, in den kleinen täglichen Ruheinseln, die nur ihm gehören. Friedrich ist eigentlich ein ruhiger Charakter. Bedächtig und sanft legt er die Hände zusammen, wenn er öffentlich spricht, er wirkt geerdet und ruhig, nur selten löst er sich aus dieser eleganten Haltung, höchstens um sich schnell und gekonnt seine Brille zu richten, die aber meist, genauso wie sein Anzug, eigentlich perfekt sitzt. Ein wenig steif wirke er manchmal, spaßbefreit, lustfeindlich auch, zumindest würden ihm das seine Kritiker unterstellen, wenn sie gehört würden. 

Er ist vor ein paar Monaten angetreten um alles zu verändern, anders zu machen, wieder besser zu machen. Vieles konnte er, ausgewogen oberflächlich, einlösen. Allerhand, was so eine frische Corporate Identity alles schafft. Das Miteinander wollte er fördern, politisch wie auch am Wirtshaustisch, wahrscheinlich ist ihm das tatsächlich gelungen, oder auch dies wird zumindest sehr gut verkauft. 

Friedrich trifft man am Brauchtumsfest genauso wie bei Kulturveranstaltungen. Die Regel ist: Drei Besuche im Altersheim oder einer Sozialeinrichtung, zwei Besuche bei einer Traditionsveranstaltung, ein Besuch bei einer Lesung, zum Beispiel. Dafür, dass sein Ort eher überschaubar ist, gibt es doch ständig was zu besuchen. Und Friedrich taucht auf, oft auch unangekündigt – das ergibt gesamt ein gutes Bild. Ein wenig Understatement, aber auch das ist ein Statement, nämlich dass man es nicht mehr nötig hat, sich zu behaupten. Alle wissen, wo die Macht sitzt und die hat einen fitten Körper und ein aufgeräumtes Gesicht und das gehört nunmal Friedrich. 

Er steht zu seinem Wort, auch das eine Qualität, da steht er dann an seinem eigens angeschafften Plexiglas-Pult und verkündet, sogar im Livestream, direkt aus dem Rathaus; auch wenn man sagen könnte, das sei reichlich aufgeblasen für so ein Provinznest. Sein Wort hat Gewicht und wird auch über die Grenzen seiner Provinzgemeinde nicht nur gehört sondern, so wird es zumindest wahrgenommen, auch beachtet.

Friedrich verkörpert Hoffnung und hat definitiv Strahlkraft, aber nach dem letzten Bürgermeister wäre wohl jeder als Lichtgestalt wahrgenommen worden. Seine Gemeinde war bis zu seinem Amtsantritt ja nur noch als Skandalort bekannt, Veruntreuung von Geldern aus der Stadtkasse, überhöhte Spesenabrechnungen, undsoweiter und dann noch Versuche Kritiker mundtot zu machen. 

Gerade deswegen wäre es ja so enttäuschend, wenn sich Friedrich mit seinem Missgeschick auch in einen Skandal verstrickt hätte, denn wenn man sich die Worte auf der Zunge zergehen lässt, die Friedrich in völliger Unachtsamkeit, die ihm normalerweise nicht unterkommt, ausgekommen sind, ist es zumindest ein kleiner …, ein Skandälchen, wenn man es genau betrachten würde.  

Man könnte sagen, er benehme sich wie ein König oder Kaiser, der gnädig nach seinem Gutdünken die Gelder an die Untertanen verteile. Man würde ihm unterstellen, auch er bediene doch nur jene, die ihm nahe stehen, die er von früher kenne, mit denen er dann und wann mal auch privat zusammenkomme. Nichts Außergewöhnliches in dieser Gegend zwar, man ist sich halt doch so nah. Gewisse Naheverhältnisse können nicht ganz vermieden, schon gar nicht ausgeschlossen werden. Geht einfach nicht, geht einfach nicht anders. Man würde sich darüber lustig machen, dass ein „Freundschaft!“ aus seinem Mund tatsächlich nur einen Wert habe, nämlich den der Förderhöhe. Und das wäre natürlich nicht nur unlustig sondern auch unrichtig. Da würde man ihn tatsächlich völlig falsch einschätzen, denn so sei er nicht, so sei er wirklich nicht. Es sind nur die Nerven und die Anspannung und manchmal, nur sehr selten, verliert Friedrich eben seine eigene Beherrschung.

Und Friedrich hat nicht unrecht: Die Neidgenossenschaft, die um sich greifende, der geifernde Zusammenschluss der Unbefriedigten wird immer größer und es wird noch soweit kommen, dass sie zur nächsten Wahl antritt. Und das darf nicht passieren, deswegen checkt Friedrich nun immer mehrmals, bevor er eine Mail abschickt, nämlich wem er, wann, wo, wie und warum schreibt. Auch über den Inhalt will er in Zukunft ein zweites Mal nachdenken. Gut so. 

menschen treffend: josef

„Deitsch“, so spreche man hier in diesem Land, das sei die Sprache, die man verstehe und die unsere Kultur präge, geprägt habe und immer prägen werde. „Herrgott, schau oba.“, denkt sich Josef. 

Heute wird wieder mal diskutiert im Dorfgasthaus, heute gibt es erneut einen Anlass dazu. „Einer von den Slowenen“ habe gefordert, dass als zweite Landessprache „slowenisch“ festgeschrieben werden solle. Das stand in der Zeitung, die jetzt noch aufgeklappt am Wirtshaustisch liegt. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr kämen „die Slowenen“ wieder damit „daher“. Wobei das natürlich auch für Josef einleuchtet, dass „die Slowenen“ ihre Chance wittern und natürlich versuchen das 100-Jahr-Jubiläum der Abstimmung zum Verbleib bei Österreich zu nutzen, vielmehr noch: zu instrumentalisieren. Das wird „den Slowenen“ natürlich nicht gelingen. „Diese Hund!“ 

Es reicht, es reicht, es reicht!, seit Jahrzehnten gehe das so, es reicht „den Slowenen“ offensichtlich nie. „De Tschuschn unta uns“ 

Die große Angst, die am Wirtshaustisch herrscht, ist, dass man jetzt nicht nur einen „Slowenenversteher“ und „Slowenenfreund“ als Landeshauptmann habe, sondern einen, der „woarscheinlich sölba ana von denen is“. Wer weiß, denkt sich nicht nur Josef, wenn jetzt tatsächlich all die Forderungen erfüllt würden. Seit der letzte richtige Landeshauptmann, nein, Landesvater, der wirklich jedem und jeder und allem in diesem Land die Hand geschüttelt habe, auf tragische Weise ums Leben kommen musste, ist alles möglich. Jetzt gäbe es niemanden mehr, der dem ganzen „Minderheitenblödsinn“ abschwöre, der sich dagegen stelle, wie der Landeshauptmann, der sowohl im weißen Anzug wie auch im braunen Kärntner-Anzug, der im Landtag wie auch auf der Straße immer eine gute Figur gemacht habe, und mit hoher Wahrscheinlichkeit ermordet worden war. Je nach Blickwinkel entweder vom Mossad oder von den Freimaurern oder von … Josef glaubt eher, es waren „die Mächtigen“, die ihn einfach weghaben wollten, denen er im Weg stand, weil er der Letzte war, der sich noch dagegenstellte. Gut in Erinnerung ist Josef noch, wie der Landeshauptmann, der „Londesvota“, persönlich anrückte, um Ortstafeln zu verrücken, ganz friedlich und rechtskonform natürlich. Geklatscht hatte Josef damals, als er die Bilder im Fernsehen sah, diese ikonischen Bilder mit dieser Ikone der treuen Patrioten, deren Herz für ihr Land schlägt. Eine Mehrheit habe damals geklatscht, so hat es Josef in Erinnerung, die meisten fanden es gut, alle haben zugesehen. Warum wohl, stellt Josef fest, weil das eben alle guthießen. Gibt ohnehin kaum noch welche von denen, werden immer weniger, stellt Josef fest, weil sie ja selber merken, dass sie ihr „slowenisch“ nicht brauchen. „Za wos?!“ Für was denn überhaupt, wenn sie sowieso deutsch sprechen. 

Schimpf und Schande brächten „die Slowenen“ über das Land, ständig nichts als Unruhe wollen sie stiften, seit Jahrzehnten, nur Forderungen könnten sie aufstellen und immer wieder neue Ortstafeln. Man habe mehrmals den kleinen Finger hingestreckt und trotzdem wäre nach der ganzen Hand gegriffen worden. So ist das in Josefs Erinnerung, er habe das ja alles miterlebt, immerhin sei er – seit diesem Jahr in Pension – ja auch schon 65. 

Man erinnere sich, dass sich vor hundert Jahren eine Mehrheit der lokalen Bevölkerung für den Verbleib bei Österreich entschieden hat, eine Mehrheit, die nur überwiegen konnte, weil auch zweisprachige Kärntner und Kärntnerinnen für diese Aufteilung und eben nicht Abspaltung votiert haben. Man erinnere sich, dass kaum ein Jahrzehnt nach dem zweiten Weltkrieg im Staatsvertrag die Minderheiten-Rechte festgeschrieben wurden, welche der slowenischsprachigen Bevölkerung in Kärnten Sprache wie Kultur zugesichert hatten. Man erinnere sich, dass diese in Artikel 7 des Staatsvertrags von 1955 festgeschriebenen Rechte auch fünfzig Jahre später noch nicht garantiert werden konnten. Josef erinnert sich nicht. Josef erinnert sich nicht oder erinnert sich anders. 

Er kenne sie, „die Slowenen“, nicht aus seinem Ort, wo es sicher kein Slowene lebe, sondern von dort, wo man etwas tiefer in sein Kärntner Land gefahren sei. Dort sitze man im Gasthaus und sei der Feind, da würde man auffallen. Spürbar sei die Ablehnung gegen jene, die nicht slowenischsprachig sind. Da würde dann auf windisch oder slowenisch oder einem Kauderwelsch getuschelt und geschimpft. Und obwohl Josef nicht versteht, was da gesagt wird, ist er sich sicher, dass dies genau so sei. Unfreundlichkeit, Ablehnung. Eine aufgeheizte und angespannte Stimmung nehme man wahr. Er erinnert sich an mehrere Begebenheiten, die er fast als bedrohlich wahrgenommen habe. „Ongst“ und Unwohlsein beschleiche ihn und naturgemäß ein Misstrauen. Diese dauernde Unzufriedenheit von der Gegenseite, in den Gesichtern eingeschrieben, verbittert, kampfesbereit. Wem es hier nicht passe, könne ja sofort abhauen, zurück über die Grenze, wo sie hingehören, „diese Slowenen“, es kämen sowieso immer mehr Ausländer („A noch de Moslems“). Und wohin führe das? – Naturgemäß zur Umvolkung, aber das will man vielleicht auch. Fremd im eigenen Land, so fühlt sich Josef. „Hetz glab is owa gach. Wir san in unsam eignen Lond bold die Auslända.“

Es sei ja schon ein Zeichen, denkt sich Josef, dass an der Schule seiner Enkelin slowenisch als Freigegenstand angeboten würde, wie er letztens erfahren habe, soweit seien wir schon. „Sicha nit“ 

Josef sieht auch gar nicht ein, warum man überhaupt eine andere Sprache lernen sollte („Za wos?!“), habe er auch noch nie gebraucht, nicht beim Ausflug über die Grenze nach Italien zum Pizzaessen und nicht mal im Urlaub – in Lignano oder Bibione. Die können alle deutsch, also wieso solle er es lernen. Ein paar Wörter kann Josef natürlich schon: „Ciao“ zum Beispiel, „Uno – Duo – Tre“ aufzählen und „Birra“ sowie „Pivo“ rufen, und „Cevapcici“ und, da muss Josef etwas überlegen, sogar „Dober dan“.