menschen treffend: alfred

Seine tägliche Routine läuft immer gleich ab: Erster Weckton gegen 7 Uhr, zweiter Weckton um 7:15, was der späteste Zeitpunkt ist, an dem das Bett verlassen sein muss, Hose anziehen -> Zeitung holen -> Kaffee kochen. Bis längstens 8 Uhr sitzt Alfred dann am Frühstückstisch, liest die Zeitung und trinkt seinen Kaffee, isst vielleicht noch ein Stück Kuchen oder Brot, je nachdem, was gerade da ist, damit er irgendwas im Magen hat. Danach wird der Tisch abgeräumt und abgewischt. Nach dem Zähneputzen wird nun aus dem Küchentisch ein Arbeitstisch, mit Laptop, Stiften und Zettel. Und dann schreibt Alfred bis mindestens 13 Uhr, manchmal auch länger, wenn auch nicht durchgehend, denn ein bis zwei Kaffee, Blicke aus dem Fenster und kurze Gänge, um sich zwischendurch etwas zu bewegen, sind erlaubt. 

Routine ist wichtig, sie und strenge Regeln sowie Verbote (Keine Telefonate! Keine Emails! Kein Essen!) helfen konzentriert zu bleiben. 

Alfred kennt unzählige Autoren, die sich gleich nach ihrem ersten Erfolg zu sehr von der Arbeit ablenken ließen, die mehr mit Restaurant-Besuchen und Einladungen bei Gönnern als mit ihrem Werk beschäftigt waren. Schein-Autoren nannte er sie, sie performten ihr Schreiben nur mehr, weil sie eigentlich von dem, was andere in sie und ihre Aura reinlasen und wenigen tatsächlichen Lesungen im Jahr lebten. Autoren-Darsteller, die immer exzentrischer wurden, sonst aber keinerlei Entwicklung zeigten, die letztlich biederen Anbiederer. 

Wobei das Phänomen, nur noch in der Oberfläche zu glänzen und damit die darunter fehlende Substanz zu verschleiern, nicht auf KünstlerInnen beschränkt ist, sondern generell schon die längste Zeit um sich gegriffen, die Kompetenz gleichzeitig abgenommen hat. So gibt es Ärzte-Darsteller wie es auch Handwerker-Darsteller gibt, die ihren eigenen Sinn auch nicht mehr in ihrer Arbeit sondern vielmehr der Simulation von Arbeit finden, so geht das quer durch die Gesellschaft und selbst der Kanzler ist nicht viel mehr als ein Kanzler-Darsteller. 

Um 9:20 hat Alfred immer noch keinen einzigen Satz geschrieben, war kurz abgeschweift und in Gedanken, den immer wieder gleichen, aber stets falschen, weil unproduktiven, den aufregenden, aber nicht im positiven Sinne, hängengeblieben. Wieder mal ein Artikel über einen politischen Skandal, der allerdings erst in einigen Jahren als Verbrechen gesehen wird, spukt in ihm herum. Letztlich ist man in einer Denkspirale gefangen, in der man ständig über das Gleiche in Variation nachdenkt, denkt Alfred, und es macht ihn unruhig. 

Und Alfred weiß, dass es nichts bringt, sich für das Falsche zu erregen, dem nachzuhängen, was nicht zu ändern ist, das sich nie ändern wird. Das ist nicht pessimistisch sondern viel zu realistisch gedacht, denkt Alfred, auf seine Notizen starrend, mit denen er im Moment nichts anfangen kann. Andererseits kann Alfred es eben nicht lassen und findet das gleichermaßen gut wie auch schlecht, lähmend und unnötig aber eben auch wichtig. Es sind immer die gleichen Themenkreise: Ungerechtigkeiten, Politik und Menschen, die sich wie Arschlöcher verhalten. Das steht alles in der Zeitung, aber bevor es in der Zeitung steht, ist es noch viel schlimmer. Und es ist schlimm, dass vieles extra für die Zeitung gemacht wird. Das, was als echt wahrgenommen wird, ist eigentlich völlig unecht geworden. Wir leben in einer Inszenierung. Das, was real sein sollte, ist nur eine Simulation, ist künstlich und weil alles schon so künstlich ist, kommt die Kunst wiederum nicht nach, bemüht sich aber darum und wird zur schlechten Kunst oder nicht mal das. Diese vielen durchschnittlichen Kunstversuche rühren daher, dieser Haufen überbewertete Kunstwerke. Man hat sich einreden lassen, dass das Radikale zu vermeiden sei, was vielleicht im Alltag stimmen mag, aber doch nicht in der Kunst! Totale Radikalität ist doch die Voraussetzung um Neues zu schaffen. 

Und darin liegt der Fehler, weiß Alfred, und er weiß auch, dass die Kunst von der Realität nichts zu lernen hat. Wobei darin schon die Unschärfe liegt, denn was ist überhaupt Realität, was ist Echtheit, was Authentizität?  Worin liegt die Kunst und in welchem Verhältnis zu all dem, das nicht Kunst ist? Ein Jammer, das Alfred das Vokabular fehlt. 

Ich habe mich viel zu lange in der Realität aufgehalten, mich aufhalten lassen, denkt Alfred, dabei habe ich keinen Bezug zu ihr, oder wenn dann nur einen der absoluten Ablehnung.  Man blockiert sich und sein Denken damit. Man arbeitet sich an etwas ab, das falsch ist, und  letztlich keinen Wert hat. Stimmt das so? 11:36 denkt Alfred „Abkoppeln“, völlig loslösen, von den Kontexten, nur noch in den und durch die eigenen Texten leben. „Abstoßen“, „Vermeiden“ notiert Alfred, und „Wo warst du gestern und wo wirst du morgen sein? – Nicht von dieser Welt.“ 

Und nach dieser Notiz beginnt Alfred zu schreiben an, bis exakt 13:03, ohne eine Sekunde an etwas Anderes als an Sprache zu denken, es entsteht ein unfertiger Text, den es noch zu überarbeiten gilt, am nächsten Tag und den Tagen danach, um etwas näher zu kommen, von dem Alfred noch nicht so genau weiß, was es ist. Es sind immerhin 5.210 Zeichen, mit denen er beschließt, ab morgen nur noch auf die Kunst zu hören.