menschen treffend: anna

Ob sie die Polizei verständigen soll, fragt Lea ihre Freundin Anna. Sie kennt diese Abende, wenn Anna mit ihren zwei Kindern plötzlich vor Leas Tür steht und Sturm läutet, aber so panisch hat sie Anna noch nie gesehen. Anna zittert am ganzen Körper, versucht ihre Kinder anzulächeln, aber es will ihr nicht gelingen. Lea setzt die drei auf das Sofa, schaltet den Fernseher ein und macht einen Tee. Anna versucht ihre Tränen zu verbergen, aber es gelingt ihr nicht ohne Schluchzen, sie schnappt immer wieder nach Luft. Erst nach einer halben Stunde beruhigt sie sich, lässt sich von Lea und dem warmen Tee beruhigen. Anna kennt das schon, man würde nicht formulieren, dass sie es schon gewohnt ist, aber irgendwie ist es doch so. Die Schreie, die Schläge, die Gegenstände, die durch die Gegend fliegen und die Blicke ihrer verängstigten Kinder, wenn Christoph, ihr Mann, wieder mal ausrastet. Die Gründe dafür waren vielfältig, es musste nicht mal Alkohol im Spiel sein, es reichte, dass Anna sich nicht sofort meldete, wenn Christoph sie anrief, er nicht wusste, wo Anna ist. Oder er wieder mal das Gefühl nicht loswurde,  Anna würde ihn betrügen, was schon allein deswegen völlig unbegründet war, weil sie ja ohnehin niemand treffen durfte, zumindest keinen Mann. Lea hat wiederholt mitbekommen, wie Christoph anrief,  um zu überprüfen, ob Anna tatsächlich bei ihr sei. Schon wenn Anna ehemalige Kollegen auf der Straße traf, wurde Christoph misstrauisch, deswegen erzählte sie auch nicht mehr von solchen Begegnungen. Wobei Anna sich mit dem Leiter der Kindergartengruppe, in die ihr Sohn Jonas geht, in den letzten Wochen öfters zusammengesetzt hat, weil er sich Sorgen um Jonas machte, weil dieser sich wiederholt in die Hose gemacht hatte. Aber auch davon hat Anna nicht erzählt, weder das mit Jonas und auch nicht, dass da dieser Kindergartengruppen-Leiter ist, der ihr ein gutes Gefühl gibt.

Das konnte Christoph also nicht wissen, oder doch? Auf jeden Fall ging es heute wieder um Eifersucht, aber Christoph hatte nichts konkret angesprochen, der Streit und die folgenden Auszucker wurden vielleicht einfach nur dadurch ausgelöst, dass Anna sagte, er solle sie in Ruhe lassen. Aber so genau weiß sie es nicht mehr, es ging so schnell. Und heute war es anders, anders als sonst, denn Christoph hatte die alarmierenden Worte in den Mund genommen, er würde sie umbringen, alle. Sowas hatte Christoph bisher nie formuliert, Anna wusste nach einiger Zeit beruhigt er sich wieder und entschuldigte sich sogar, aber sie wusste nicht, wo das alles herkam und wie sie nach so einem Ausspruch jemals wieder ruhig einschlafen sollte. Das war der Moment, wo Anna sich mit den Kindern im Kinderzimmer einsperrte und tatsächlich erstmals die Polizei anrief, weil sie einfach Panik hatte. Als die Polizei eintraf, war Christoph bereits verschwunden, Anna hatte keine Ahnung wohin. Anna hatte ihre Sachen gepackt, ein bisschen Spielzeug und Gewand für die Kinder – und die Zahnbürsten, sie ist sogar nochmal zurückgelaufen, um die Zahnbürsten zu holen – und dann fuhr sie mit dem Taxi zu Lea, auch wenn die Polizei sie auch dorthin gebracht hätte, aber Anna war es eigentlich schon wieder peinlich, dass sie die Polizei angerufen hatte, letztlich erstattete sie nicht mal Anzeige. 

Natürlich könnte Christoph jetzt jederzeit vor Leas Haustür auftauchen, er wusste ja, wo sie wohnt, aber gegen Leas einbruchsichere Tür würde er nicht ankommen und im schlimmsten Fall, würde Lea direkt wieder die Polizei rufen. 

Sie kann nicht mehr zurück, das ist Anna klar, jeglichen Zweifel daran, hat Lea ihr schon ausgeredet. Anna glaubt natürlich nicht daran, dass Christoph es ernst meinte. Er würde sie doch nie umbringen, schon gar nicht die Kinder. Oder doch? Vielleicht schon. 

Gerade letzte Woche wurden wieder zwei Frauen von ihren Männern ermordet. In letzter Zeit gab es eine regelrechte Häufung solcher Fälle, wo Frauen erstochen, erschossen, erwürgt oder erstickt wurden. In diesem Jahr gab es schon viele Frauen, die zu Opfern gemacht wurden oder – so hart es klingt – zu Leichen. Anna hatte das auch in den Zeitungen mitverfolgt, jeden Monat, dann jede Woche eine neue Tat. Als ob Femizide ansteckend wären oder sich die Männer aneinander ein Beispiel nehmen. In den Nachrichten war von Beziehungstaten die Rede, als ob Gewalt oder Mord selbstverständlicher Teil einer Beziehung wäre. Anna kann nicht leugnen, dass sie auch an ihre Situation mit Christian gedacht hatte. Will man mit so jemanden zusammenleben, mit jemanden vor dem man Angst hat, mit jemanden bei dem es zumindest den Zweifel gibt, ob er nicht auch mal den unumkehrbaren Schritt zu weit gehen könnte. Seit Monaten wenn nicht sogar seit Jahren hatte Lea auf Anna eingeredet, sich zu trennen, Anna hatte es nie geschafft, aber nun gibt es kein Zurück mehr. Sie hebt nicht ab, als Christoph dann anruft, kurze Zeit später kommt eine SMS, dass es ihm leidtue, dass er es nicht so gemeint hätte, dass er sie liebe. Anna antwortet nicht. Es kommt eine SMS mit Herzen, Anna antwortet wieder nicht, auch wenn es ihr schwerfällt. Fünf Minuten später kommt ein SMS, dass er sich umbringen werde und zehn Minuten später, dass sie eine dumme, wertlose Sau sei und Christoph sowieso auf sie spucke. Die letzten beiden SMS liest Anna nicht mehr, Lea löscht sie gleich. Anna sitzt zu diesem Zeitpunkt schon wieder bei den Kindern am Sofa und versucht erneut ihre Tränen nicht zu zeigen und nicht nachzudenken, wie es weitergehen könnte. 

Es ist unbegreiflich, warum es immer wieder zu solchen oder ähnlichen Fällen kommt. Es ist befremdlich, dass Frauen immer noch besonderen Schutz bedürfen, dass es Institutionen wie Frauenhäuser geben muss, dass Selbstverteidigungskurse explizit für Mädchen angeboten werden, damit sie sich wehren können, dass Frauen gewisse Verhaltensregeln nähergelegt werden, damit sie nicht zu Opfern werden. Das wird Frauen beigebracht.

Und es ist tatsächlich so, dass Kurse für Männer angeboten werden, in denen diese lernen sollen, mit ihrer Wut, ihrer Aggression umzugehen, anders umzugehen als anderen oder sich zu schaden. Sie müssen es in Kursen lernen, weil es ihnen davor nie beigebracht wurde.