menschen treffend : willi

Vor einer halben Stunde hat er seinen Text schnell noch in die Redaktion geschickt, nun steht er schon am Seeufer in seiner Männerrunde und stößt mit dem ersten Glas Wein an. Regelmäßig wird Willi zu Vernissagen, Eröffnungen und Events eingeladen, nur mehr selten nimmt er diese Einladungen auch an. Es sind die Menschen, viele von ihnen will er nicht sehen, nicht diese Anhäufung von sozialer Interaktion, die irgendwann unüberschaubar wird und sich vom ständigen Smalltalk nie wegbewegt.

In seiner oberen Zahnreihe hängt noch ein Stück Fleisch, vom Salamibrot, das er gegessen hat, während er den Artikel, also seine Besprechung zu einer Ausstellung schrieb. Es wurde ein absoluter Verriss, noch immer kocht in ihm das Blut, in tatsächlicher Raserei hämmerte er seine Verwunderung über eine derart schlechte Kunstausstellung in der, in seinen Augen, ohnehin miserablen Galerie. Von seiner Meinung konnte ihn auch die, in seiner Wahrnehmung, völlig überengagierte Galeristin nichts ändern, die ihn vollquatschte, während er nur in aller Ruhe durch die Galerieräume schreiten wollte. Das machte er dann auch, allein, aber hastig, um nicht noch weitere Worte mit einer der Verantwortlichen sprechen zu müssen. Starke Frauen in seinem Alter machen ihm Angst, würde er so nicht zugeben, auch nicht an sich bemerken. 

Erst beim dritten Glas Wein bemerkt er, dass ihm etwas zwischen den Zähnen hängt und mangels Zahnstocher (ärgerlich!) versucht er das Undefinierbare mit seinen ungepflegten Fingernägeln loszuwerden. 

Die Gespräche am See sind heute eher seicht, denkt er sich, denkt er sich tatsächlich und muss kurz schmunzeln, obwohl er sonst einen ernsten Ausdruck auf seinem Gesicht trägt und nur gequält zum Lächeln zu bringen ist. Manche würden ihn humorlos nennen, aber Willi meint, wer in solchen Kategorien denkt, glaubt auch, dass Spaß ein Bestandteil des Lebens ist. Andere nennen ihn phantasielos, dem würde er jedoch strikt widersprechen, denn an Vorstellungskraft fehlt es ihm nicht. Ihm ist eher alles zu eindimensional, so so so, also nicht so kosmisch, wie er es gern hat. Kosmisch – ein Lieblingswort von Willi, das er gerne in Konversationen einstreut um den höheren Charakter von Dingen zu beschreiben. Das macht er gerade auch und alle hängen an seinen Lippen. Willi hört natürlich weniger gerne zu als selbst zu sprechen, sich selbst sprechen zu hören. Man könnte in Frage stellen, ob es daran liegt, dass er soviel zu erzählen hat, dafür ist Willi doch zu schmallippig. Oder ob es nicht vielmehr daran liegt, dass er aufgrund seines Journalistenhobbys eine Begehrlichkeit weckt und eine gewisse Macht ausstrahlt. Es ist natürlich nicht wirklich ein Hobby, er bekommt selbstredend ein Honorar für seine Texte auf der Kulturseite der lokal meistgelesenen Zeitung, aber für die Berufsbezeichnung Journalist fehlt es ihm doch an der Regelmäßigkeit, auch am Ethos. Sein wirkliches Hobby ist es, unter einem Pseudonym in den Diskussionsforen diverser Zeitungen mit anderen Usern zu argumentieren und auf deren Rechtschreibfehler hinzuweisen. Seine Waffen in diesem täglichen Kampf sind ein Duden aus den 80er Jahren zur deutschen Rechtschreibung und Georg Buchmanns „Geflügelte Worte“, ein Standardwerk. Beides liegt auf seinem Schreibtisch in seinem Arbeits- respektive Computerzimmer immer griffbereit. Hinter ihm reihen sich im Bücherregel die Gesamtausgaben von Goethe, Schiller oder auch modernen (sic!) Autoren wie Martin Walser und Günther Grass aneinander, alles gut sichtbar und geordnet. Und natürlich steht da noch viel mehr herum, was man gelesen haben muss, also was allgemein als Kanon anerkannt ist. Aber dort in seinem Bücherregal gibt es auch diverse Bücher, die er geschenkt bekommen hat, manche von den AutorInnen selbst, teilweise sind sie noch eingepackt. Er kann ja nicht alles lesen, dafür fehlt ihm die Zeit, oder anders: dafür ist ihm seine Zeit zu kostbar. Wenn Willi ehrlich wäre, würde er zugeben, dass er selbst im „Mann ohne Eigenschaften“ einen Großteil überblättert hat. Gerade soviel lesen, dass man eine Ahnung hat, nur soviel reinlesen, dass man daraus zitieren kann. Willi zitiert gern, damit zeigt er seine Intellektualität. 

Beim fünften Glas Wein ist das Fleischstück schon etwas kleiner geworden, was gut ist, es kommt mit Nummer 5 allerdings sein unangenehmer, cholerischer Charakter etwas heraus, der aber naturgemäß weiter akzeptiert wird, weil sowieso alle schon auf seinem Niveau sind. Damit werden die Gespräche auch nicht mehr interessanter, die Verhaltensweisen auch nicht edler. Es fallen anzügliche Bemerkungen über die junge Kellnerin, die gerade die Tische abwischt. Willi hält sich zurück, er schaut zwar auch gerne jungen Frauen hinterher, ist aber doch so kultiviert, das gut zu kaschieren. Auch seine Rülpser werden nicht bemerkt. 

Die Männerrunde beginnt beim sechsten Glas zu singen, Willi grummelt eher mit, während die anderen lauthals tönen, das ist Willi unangenehm, peinlich berührt sieht er sich um. 

Dann noch ein siebtes Glas, zum Abschluss, dann aber …

Bald wird er die Runde verlassen haben und in seinem Mercedes Benz nachhause gefahren sein. Niemand wird ihn aufgehalten haben. Dort wird er sich vor seinen Schreibtisch gesetzt und für fünf traurige Minuten einen kurzen Pornoclip angeschaut haben, während er mit einer Büroklammer endlich das Fleischstück aus seinen Zähnen entfernt haben wird.