menschen treffend: werner

Schon die Einladung war eine Frechheit, die Werner innerlich rasend machte, noch viel mehr, weil er sich nicht dagegen wehren konnte, sie auch anzunehmen, was ihm nicht nur unverständlich war sondern ihn nur noch viel tosender machte.
Wie ein Geist entstieg Werner schließlich dem Zug, der ihn in diese Eisenbahner-Stadt geführt hatte, durchschritt das völlig nichtssagende und auf minimale Verweildauer ausgerichtete kalte Gebäude des Bahnhofs und trat, durch und durch widerwillig eigentlich, auf den Vorplatz, der von Bushaltestellen dominiert wurde … Und von einem, nicht in Stein gemeißelten aber doch in Bronze gegossenen Schaffner als eine Art Skulptur. Solchen unsinnigen Frechheiten der Stadtgestaltung sollte er in Folge noch öfters begegnen, wenn ihm dann Braumeister, Narren und Feuerwehrmänner in den Weg gestellt wurden,  im Versuch von den Prioritäten dieser Stadt, die eigentlich immer noch ein Dorf sein sollte, zu künden. 
Es ist eine lachhafte, eine lächerliche Stadt, war es schon immer. Eine Stadt als dauerhafter schlechter Witz über den nur die zurückgebliebenen, die nie ausgewanderten, die nur selten und dann nur nach Tarvis oder Udine oder höchstens Lignano ausreisenden EinwohnerInnen dieser Stadt noch lachen können, weil sie lachen wollen, weil es in dieser Stadt, die das Lachen schon im Namen trägt, ein streng verordnetes Lachgebot gibt. Werner fand das noch nie witzig, nichts von all dem, was hier traditionell sich verankert hat.  
Diese Stadt ist nur für Menschen erträglich, die nicht mehr als einen Gedanken zu verschwenden in der Lage sind, oder für jene, die nur zu Besuch sind. Wirklich leben kann man hier nicht. Es fehlt am Konzept. Lei-Lei-Leider. Diese Stadt ist nur besoffen erträglich,  was vielleicht auch den überdurchschnittlich hohen Bierkonsum unter den BewohnerInnen erklärt, fügte sich als Satz in die Gedanken von Werner ein, und dass dieser Satz gleichzeitig Übertreibung wie auch Untertreibung war. 
Kaum ein paar Schritte gegangen, schwierige erste Schritte, nachdem Werner schon so lange keinen Fuß mehr in die Strassen dieser Stadt gesetzt hatte, nie mehr setzen wollte, hatte sich Werner selbstredend auch ein erstes Bier geholt. Dann erst ging es weiter. Wo war er? Ach, hier, immer noch hier, in dieser Stadt. 
Wenn man vom Bahnhof geradewegs durch die Innenstadt spaziert, durch die Strassen, über die Brücke, den sogenannten Hauptplatz hinauf, die Befreiungsstrasse entlang und am Gymnasium vorbei bis in den Stadtpark wandert, wird man auf seinem Weg keinerlei Kunst finden. Sämtliche Kunst wurde aus dem Stadtbild entfernt oder nie installiert. Diese Stadt ist bekannt dafür, schon viele renommierte Künstler auf die Müllhalde geschmissen zu haben. Hier werden Künstler vor den Kopf gestoßen, bis sie sich schließlich durch Flucht retten bevor sie umkommen, um nicht mehr wiederzukehren. 
Werner war einer von ihnen und stand nun völlig unverständlich für sich selbst mitten in dieser Stadt. Wie konnte das nur passieren? Vielleicht eine Revanche. Werner hatte sich überreden lassen von der charmanten Einladung eines kunstinteressierten, begeisterten Geistlichen, der ihn zu einer Lesung gebeten hatte. Werner musste zugeben, dass es allein das Geld war, das ihn lockte, das er dringend brauchte. Eigentlich ein Sündenfall, ausgerechnet deswegen wieder in diese Stadt ohne Kultur und vor allem vor sich einzubrechen. Sich wieder diesem nicht nur scheinbaren sondern völlig offensichtlichen Kulturverständnis einer verkerkerten Bildungsanstalt auszuliefern, war ein Graus, der Werner durchfuhr. In dieser Stadt findet Kultur im Keller statt, dorthin ist sie verband als ungeschriebenes Gesetz, während das Kulturamt wiederum im Schloss residiert und sich aufspielt. Im Schloss wird die Kultur dirigiert, wie von jemanden, der vorm Schlafengehen mit seiner Zahnbürste ein fiktives Orchester in Aufruhr versetzt. Spiele, Spiele, Gastspiele spielen sich hier ab, Spielereien, die aus dem Katalog ausgesucht wurden, wie billige Unterwäsche beim Versandhändler.  Beamtenmentalität statt Genialität. Völlige Inspirationslosigkeit. Oftmalige Tatenlosigkeit. Gähnender Stillstand, zum Leerstand, der in dieser Stadt ohnehin allgegenwärtig ist. 
Ich darf mich nicht aufregen, dachte sich Werner, man darf sich nicht immer aufregen, erregen lassen vom Unbedeutenden, vielmehr muss man den Blick ab- und dorthin wenden, wo tatsächlich noch was passiert, überall nur nicht hier. Wahrscheinlich auch eine Übertreibung, aber Werner wollte doch nichts beschönigen. Schon gar nicht, dass  diese Stadt einmal im Jahr, in der Werner nun schon vielzuviele Schritte gegangen war, zum Rummelplatz gemacht wird, der die ganze Stadt einnimmt und alles in in Bierseligkeit überschwemmt. Ein Taumel, eine Taumelei. Eine Stadt als einziger Marketinggag. Das ist ihr Kapital, eine angeheiterter Trachtenkitsch, der zu den Blumen und Schmetterlingen und Bilderrahmen, die den Blick nach oben mit Plunder verstellen, passt. Jajaja, klar, Werbeversessenheit aber Geschichtsvergessenheit, hier, wo das Gedenken in Seitengassen abgeschoben wurde, wo es seither im Regen stehengelassen wird. 
Oberfläche, Oberfläche und nichts darunter, dachte sich Werner, zubetoniert und zugepflastert, Plätze, die aus Grabsteinen bestehen. Dem größten Philosophen der Stadt, ein Philosoph von Weltrang, von Bedeutung, hat man den kleinsten Platz gewidmet, der nicht mal ein Platz ist. Respektlosigkeit. Respektlosigkeiten, wohin man auch schaut. Auch Werner wurde aus Verlegenheit eine Strasse gewidmet, irgendwo auf einem Feld, auf dem eine Baukasten-Einfamilienhaus-Siedlung errichtet wurde, eine Erschließungsstrasse, er hat sie noch nicht gesehen, er könnte es nicht ertragen. Und seine Strasse, die kleine Strasse, in der er aufgewachsen war, trägt immer noch den Namen eines Nazi-Dichters. Werner merkte, er hatte immer noch eine Rechnung offen, seine Abrechnung mit den Zuständen in dieser Stadt ist noch nicht abgeschlossen. Schreibt sich „Grenzenlos“ auf die Fahnen und blickt nicht über den eigenen Tellerrand, notierte sich Werner, völlig kleinlich und kleingeistig alles. Das furchtbarste Klima, das man – trotz Südlage – überhaupt haben kann, stinkend und verlogen – und als er das noch dachte, war er schon dort angekommen, wo er in zwei Stunden für eine handvoll Kulturinteressierte lesen sollte, was er auch brav vollzog und dann sich, Salamibrote ausschlagend aber nach ein paar Bier, wieder aus dem Staub machte, aus dem ganzen Dreck floh, der ständig wieder neu aufgeputzt wird. Dann war Werner weg, danach war er endgültig weg, für immer. Er ist wohl mit der Welt zerfallen, aber war zeitlebens in seiner Raserei schwer aufzuhalten.