menschen treffend: angela

Wie lange geht das jetzt schon? Viel zu lange, dauert diese Videokonferenz an, wie immer, ändert sich nichts oder nur schleppend. Angela starrt angestrengt auf den Monitor, Zahlen werden vorgelesen, die sie nicht betreffen und auf die sie keinen Einfluss hat, es werden Einzelheiten besprochen, die sie nicht interessieren und ausgeschweift, an was sie noch weniger Interesse hat. Angela denkt daran, dass sie, wenn sie ihre Kamera endlich wieder abschalten kann, noch die Küche zusammenräumen muss, all das, was vom Mittagessen übriggeblieben ist,  und anschließend direkt das Abendessen machen sollte. Sie hat sich noch nicht mal überlegt, was sie kochen könnte, was überhaupt noch im Kühlschrank ist. Und Angela hofft, dass Leo nicht ins Zimmer kommt, weil er sich wehgetan hat oder sie ihm bei irgendwas helfen muss. Angela weiß, dass es nicht ideal ist einen Fünfjährigen vor ein iPad zu setzen, aber erstens liebt er dieses Autospiel, bei dem man sich nicht nur selbst sein Auto zusammenschrauben sondern auch die Fahrer und Fahrerinnen einkleiden kann, momentan wirklich und zweitens hat sie gerade keine andere Wahl. Eine Zeit ungestört zu sein, ist wirklich eine Herausforderung. Sie versucht die Bildschirmzeit zu begrenzen, zumindest die ihres Sohnes. 

Es ist nicht so, dass Angelas Anwesenheit jetzt für diese Videokonferenz unbedingt notwendig wäre, ihre Hauptaufgabe besteht darin, Anwesenheit also ihr Gesicht zu zeigen, aufmerksam zu wirken, ab und an zu nicken. Sie wartet darauf, dass sie gefragt, dass ihr Mikrofon freigeschaltet wird und sie ihre paar Sätze möglichst reaktionsschnell kompetent in die Runde sprechen kann. Angela betrachtet die Hintergründe der anderen Teilnehmer, Ledersessel, große Bilder, Bücherwände. Es ist eine weitere Besprechung, es folgt bloß immer wieder ein weiteres Thema, bei dem sie überflüssig ist, wie auch die Videokonferenz an sich. Hier geht es höchstens darum, dass sich das Führungsteam gegenseitig auf die Schulter klopft und sich versichert, unglaublich viel zu arbeiten. Angela weiß, hier spielt sich eine Gruppe gegenseitig etwas vor. Sie merkt, wie im Direktchat gemeinsame Tennis- oder Golfrunden (so genau kann sie es nun auch wieder nicht erkennen) ausgemacht werden, wie sich zwischendurch die Herren in ihren Anzügen zuzwinkern und „confirmen“. Eigentlich verwunderlich, dass sich niemand eine Zigarre anzündet oder zu seinem Whiskeyglas greift, um einander brüderlich zuzuprosten. Das könnte allerdings auch an ihrer Anwesenheit liegen und dass Angela ja auch noch kurz was beitragen soll. Zumindest kann sie über die Distanz nicht zum Kaffeeholen geschickt werden, ist auch schon vorgekommen, dass sie in dieser Männerrunde im Besprechungsraum in der Firma saß und sie dann gebeten wurde, um Kaffee zu holen. Wie selbstverständlich gingen alle davon aus, dass am ehesten noch sie den Weg in die Kaffeeküche auf sich nehmen könne, nachdem keine Sekretärinnen mehr in der Firma waren. Angela ist viel (ihre Aufgaben haben sich in den letzten Jahren immer mehr erweitert), aber ganz sicher keine Sekretärin, steht nicht in ihrem Vertrag. Gehobene Stellung in der Firma, viele Vorzüge, ein gutes Gehalt, wobei sie sich nicht ganz sicher ist, ob ihr Gehalt im Vergleich nicht doch etwas niedriger als das der anderen in ähnlicher Verantwortung ist. Sie ist die einzige Frau, die Teil der „Führungsrunde“, wie das auch intern benannt wird, ist. Aber Quotenfrau ist sie keine, dafür wäre allein sie auch zu wenig um tatsächlich eine Quote sichtbar zu machen. 

Eingestellt wurde sie schließlich vor einigen Jahren vor allem wegen ihrer Erfahrung, die sie während des Jura-Studiums bei diversen Praktika in hochkarätigen Anwaltskanzleien sammeln konnte und ihrer Fähigkeit komplexe Problemstellungen zu überblicken und zum Wohle der Firma zu lösen. Oder nicht? In manchen Momenten ist sich Angela nicht so sicher, dass dies der Grund war, wobei sie sich selbst exakt die Fähigkeiten selbstbewusst zuschreibt. Oder doch nicht? 

Angela ist doch eine starke Frau, oder? Zumindest wird sie immer wieder als solche bezeichnet. Vielleicht allerdings nur, weil sie durchhält, weil sie ständig ihr Bestes gibt, weil sie stets darum bemüht ist, alles zu verstehen und umzusetzen oder vielmehr zu übersetzen, was ihr vorgegeben wird. Vorgesetzt stets von Männern, die auch Angelas „weibliche Intuition“ schätzen, wie sie sagen, was übersetzt soviel heißt, dass Angela sich bemüht in die Perspektiven der Männer hineinzudenken, fast schon vorauszudenken. 

Angela versucht nicht verunsichert zu wirken, als indirekt über sie gesprochen wird, dass gerade in der Rechtsabteilung die Performance etwas verbessert werden müsste. Sie wurde nicht erwähnt und hatte trotzdem aufgehorcht, denn natürlich war sie gemeint, auch wenn es ihr niemand direkt ins Gesicht sagen wollte, offensichtlich. Angela sieht sich im Videobild, sieht sich genau an, ihre Haare, die sie sich ordentlich zurecht gemacht hat, die Bluse, die sie vor der Konferenz noch schnell gebügelt hat, sie sieht ihre Sorgenfalte auf der Stirn und versucht sie sich weg zu massieren. Sie blickt sich an und merkt, wie sich langsam Tränen ankündigen, verzieht ihr Gesicht im Kampf, dies zu verbergen. Wie kam das so plötzlich?, fragt sie sich, ringend. Die Männerrunde starrt sie an, wie sich ihr Gesicht etwas verkrampft, wie sie sich über die Wange streift, wie sie unsicher umher blickt. Vielleicht sollte sie jetzt was sagen, vielleicht wurde sie eben etwas gefragt, sie weiß es gerade nicht. Für einen Moment schaut sie nochmal in die Runde, sagt schnell „Verzeihung“, klappt ihren Laptop zu und verlässt ihre kleine Homeoffice-Kammer.

Es geht hier nicht um Gleichberechtigung (Was heißt das schon? ), das zumindest weiß sie. Und Angela will einfach nur so behandelt werden, wie alle Anderen auch. Dabei besteht sie nicht darauf, auch mit zu den Nachbesprechungen in den teuren Restaurants genommen zu werden (die Firma übernimmt natürlich einen Teil der Rechnung), die Zeit hätte sie nicht mal, weil ihr Sohn zuhause schon auf sie wartet, weil sie ihre Mutter ablösen sollte. Es geht ihr nicht um die Tennisclubs und auch nicht darum gemeinsam mit den anderen mit jovialer Verständlichkeit durch die Welt zu gehen. Sie will noch nicht mal mehr Macht, keinen höheren Posten, keine Aufstockung ihrer Abteilung und Aufwertung von ihr als Führungspersönlichkeit. Sie will nicht den Posten von jemand anderen, was ihr auch schon unterstellt wurde, sie will nicht irgendwann in den Vorstand, in die oberste Etage in ein noch größeres Büro und dort jemanden ersetzen. 

Ja, Angela hat eine ruhige, bescheidene Art, zumindest wird sie so beschrieben, aber in ihr kocht schon lange ein wütender Vulkan. Angela würde, wenn sie könnte, nicht nur den Vorstand abschaffen sondern auch die großen repräsentativen Büros sowie die Bedeutung der obersten Etage. Angela würde, wenn sie bestimmen dürfte, vielleicht endlich mehr Frauen ins Unternehmen holen, auf allen Ebenen oder ohne die Ebenen. Und deswegen arbeitet sie bereits subtil an dieser Art der Revolution, die vielen Männern berechtigterweise den Kopf kosten wird. Und da kommen Angela nun tatsächlich die Tränen, klugerweise nicht mehr vor laufender Kamera. Es sind allerdings Tränen der Vorfreude.