menschen treffend: alfred

Seine tägliche Routine läuft immer gleich ab: Erster Weckton gegen 7 Uhr, zweiter Weckton um 7:15, was der späteste Zeitpunkt ist, an dem das Bett verlassen sein muss, Hose anziehen -> Zeitung holen -> Kaffee kochen. Bis längstens 8 Uhr sitzt Alfred dann am Frühstückstisch, liest die Zeitung und trinkt seinen Kaffee, isst vielleicht noch ein Stück Kuchen oder Brot, je nachdem, was gerade da ist, damit er irgendwas im Magen hat. Danach wird der Tisch abgeräumt und abgewischt. Nach dem Zähneputzen wird nun aus dem Küchentisch ein Arbeitstisch, mit Laptop, Stiften und Zettel. Und dann schreibt Alfred bis mindestens 13 Uhr, manchmal auch länger, wenn auch nicht durchgehend, denn ein bis zwei Kaffee, Blicke aus dem Fenster und kurze Gänge, um sich zwischendurch etwas zu bewegen, sind erlaubt. 

Routine ist wichtig, sie und strenge Regeln sowie Verbote (Keine Telefonate! Keine Emails! Kein Essen!) helfen konzentriert zu bleiben. 

Alfred kennt unzählige Autoren, die sich gleich nach ihrem ersten Erfolg zu sehr von der Arbeit ablenken ließen, die mehr mit Restaurant-Besuchen und Einladungen bei Gönnern als mit ihrem Werk beschäftigt waren. Schein-Autoren nannte er sie, sie performten ihr Schreiben nur mehr, weil sie eigentlich von dem, was andere in sie und ihre Aura reinlasen und wenigen tatsächlichen Lesungen im Jahr lebten. Autoren-Darsteller, die immer exzentrischer wurden, sonst aber keinerlei Entwicklung zeigten, die letztlich biederen Anbiederer. 

Wobei das Phänomen, nur noch in der Oberfläche zu glänzen und damit die darunter fehlende Substanz zu verschleiern, nicht auf KünstlerInnen beschränkt ist, sondern generell schon die längste Zeit um sich gegriffen, die Kompetenz gleichzeitig abgenommen hat. So gibt es Ärzte-Darsteller wie es auch Handwerker-Darsteller gibt, die ihren eigenen Sinn auch nicht mehr in ihrer Arbeit sondern vielmehr der Simulation von Arbeit finden, so geht das quer durch die Gesellschaft und selbst der Kanzler ist nicht viel mehr als ein Kanzler-Darsteller. 

Um 9:20 hat Alfred immer noch keinen einzigen Satz geschrieben, war kurz abgeschweift und in Gedanken, den immer wieder gleichen, aber stets falschen, weil unproduktiven, den aufregenden, aber nicht im positiven Sinne, hängengeblieben. Wieder mal ein Artikel über einen politischen Skandal, der allerdings erst in einigen Jahren als Verbrechen gesehen wird, spukt in ihm herum. Letztlich ist man in einer Denkspirale gefangen, in der man ständig über das Gleiche in Variation nachdenkt, denkt Alfred, und es macht ihn unruhig. 

Und Alfred weiß, dass es nichts bringt, sich für das Falsche zu erregen, dem nachzuhängen, was nicht zu ändern ist, das sich nie ändern wird. Das ist nicht pessimistisch sondern viel zu realistisch gedacht, denkt Alfred, auf seine Notizen starrend, mit denen er im Moment nichts anfangen kann. Andererseits kann Alfred es eben nicht lassen und findet das gleichermaßen gut wie auch schlecht, lähmend und unnötig aber eben auch wichtig. Es sind immer die gleichen Themenkreise: Ungerechtigkeiten, Politik und Menschen, die sich wie Arschlöcher verhalten. Das steht alles in der Zeitung, aber bevor es in der Zeitung steht, ist es noch viel schlimmer. Und es ist schlimm, dass vieles extra für die Zeitung gemacht wird. Das, was als echt wahrgenommen wird, ist eigentlich völlig unecht geworden. Wir leben in einer Inszenierung. Das, was real sein sollte, ist nur eine Simulation, ist künstlich und weil alles schon so künstlich ist, kommt die Kunst wiederum nicht nach, bemüht sich aber darum und wird zur schlechten Kunst oder nicht mal das. Diese vielen durchschnittlichen Kunstversuche rühren daher, dieser Haufen überbewertete Kunstwerke. Man hat sich einreden lassen, dass das Radikale zu vermeiden sei, was vielleicht im Alltag stimmen mag, aber doch nicht in der Kunst! Totale Radikalität ist doch die Voraussetzung um Neues zu schaffen. 

Und darin liegt der Fehler, weiß Alfred, und er weiß auch, dass die Kunst von der Realität nichts zu lernen hat. Wobei darin schon die Unschärfe liegt, denn was ist überhaupt Realität, was ist Echtheit, was Authentizität?  Worin liegt die Kunst und in welchem Verhältnis zu all dem, das nicht Kunst ist? Ein Jammer, das Alfred das Vokabular fehlt. 

Ich habe mich viel zu lange in der Realität aufgehalten, mich aufhalten lassen, denkt Alfred, dabei habe ich keinen Bezug zu ihr, oder wenn dann nur einen der absoluten Ablehnung.  Man blockiert sich und sein Denken damit. Man arbeitet sich an etwas ab, das falsch ist, und  letztlich keinen Wert hat. Stimmt das so? 11:36 denkt Alfred „Abkoppeln“, völlig loslösen, von den Kontexten, nur noch in den und durch die eigenen Texten leben. „Abstoßen“, „Vermeiden“ notiert Alfred, und „Wo warst du gestern und wo wirst du morgen sein? – Nicht von dieser Welt.“ 

Und nach dieser Notiz beginnt Alfred zu schreiben an, bis exakt 13:03, ohne eine Sekunde an etwas Anderes als an Sprache zu denken, es entsteht ein unfertiger Text, den es noch zu überarbeiten gilt, am nächsten Tag und den Tagen danach, um etwas näher zu kommen, von dem Alfred noch nicht so genau weiß, was es ist. Es sind immerhin 5.210 Zeichen, mit denen er beschließt, ab morgen nur noch auf die Kunst zu hören. 


menschen treffend: maren

Dass die Mutter ihr Kind von Maren wegzieht, gerade als sich Maren ihrer neuen Freundin vorstellen will, tut ihr weh. Sie steht reglos da und schaut ratlos. Ganz fest am Arm hält die Mutter ihr Kind gepackt und schleppt es weg, das Kind schaut nochmal kurz zu Maren, dann verlässt die Mutter mit ihrem Kind den Spielplatz. Maren weiß nun nicht mal, wie das Mädchen mit den blonden Haaren und dem Eiskönigin-Shirt heißt. Sie hätte sicher mit Maren gespielt. 

Solche Reaktionen kennt Maren, es ist nicht das erste Mal, dass Eltern ihre Kinder von ihr wegziehen als ob sie ihnen etwas tun würde oder eine schlimme ansteckende Krankheit hätte. Es sind immer die Erwachsenen, die irgendein Problem mit Maren haben, dabei ist sie erst 10 Jahre alt. Die Erwachsenen wirken abweisend und irritiert, wenn sie auf Maren treffen und Maren merkt, wie sie angestarrt wird. Vielleicht haben sie auch wirklich Angst vor ihr. Andere sind auch sehr neugierig und fragen Maren übermäßig aus, greifen ihr auf den Kopf, schauen sie und ihre Mama mitleidig an, das ist Maren auch nicht viel lieber. 

Maren geht noch in die Volksschule, vierte Klasse und es ist eine sogenannte inklusive Klasse, das heißt, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam den Unterricht besuchen. Behinderung ist ein weiter Begriff: Raphael zum Beispiel kann mit seinen 10 Jahren immer noch nicht sehr gut lesen, außerdem quatscht er ständig während des Unterrichts und lacht ohne Grund laut auf, dafür ist er im Turnen, wenn Fußball gespielt wird, immer ganz vorne mit dabei und kann wirklich schnell laufen, auch wenn er den Ball nicht immer trifft, und Philip redet im Gegensatz zu Raphael so gut wie gar nicht, er sitzt meistens still da und knetet auf seinem Stofftuch herum, das er ständig bei sich trägt, und Manuel ist oft laut und grob, auch zu sich. 

Maren mag ihre Klasse und sie freut sich jeden Tag darauf in die Schule zu gehen, auch wenn sie auch viele Schwächen hat, wie sie selber weiß, besonders Rechnen fällt ihr schwer. Aber Maren singt gerne und es gibt ein Morgenritual in ihrer Klassen, da singen dann alle gemeinsam ein Begrüßungslied. 

Maren würde irgendwann gerne auch Lehrerin werden, weiß aber schon, dass das für sie schwierig wird, denn eine Lehrerin muss wirklich alles wissen und können, wie Marens Mama ihr erklärt hat, und Maren traut sich zwar viel zu, aber das klingt dann doch zuviel. Ihre Mama hat ihr versprochen, dass sie über Alternativen nachdenken, was Maren noch alles werden kann, welchen richtigen Beruf sie haben kann, denn für Maren ist eine Horrorvorstellung irgendwann mal in einer Werkstätte zu landen. 

Man muss wissen, auch Maren ist behindert, auch wenn sich Maren nicht behindert fühlt, denn sie kann so gut wie alles machen, aber irgendwas ist in ihrem Körper anders als bei anderen Menschen. Maren weiß, dass sie mehr Chromosome als andere hat, sie weiß nicht, was das ist, sie kann es noch nicht mal aussprechen, aber so ein Chromosom stellt sie sich wie eine weiße Kugel vor, mit einer weichen Schale. Maren ist anders, aber Maren findet, an ihr ist nichts auszusetzen. Maren kennt sich auch nur so. Wenn sie in den Spiegel schaut, sieht sie Maren, sich, sieht sich, wie sie sich immer schon gesehen hat: Gekämmte Haare, zum Pferdeschwanz gebunden, große Augen und sie lächelt sich an und Maren im Spiegel lächelt zurück, an den Händen trägt sie Nagellack und an den Füßen gerne rosa Schuhe. 

Maren malt gern, Prinzessinnen zum Beispiel, aber auch Autos, kein Widerspruch für Maren, denn die Prinzessinnen müssen schließlich irgendwohin fahren, wie sie sagt. Maren blättert gerne Comic-Bücher oder die Zeitung durch, aus der sie dann manchmal was ausschneidet. Maren sortiert das Obst in der Obstschüssel um, damit die Äpfel keine Druckstellen bekommen, auch das macht sie gerne. Maren hilft beim Backen, beim Abtrocknen, beim Wegräumen, hilft ihrer Familie.  In Momenten ist sie so glücklich, dass ihre Mama sie noch nicht weggeschickt hat, dass Maren sie ganz plötzlich umarmen und fest drücken muss. Es gibt Eltern, die denken, dass sie mit einem Kind wie Maren gestraft sind, das muss Maren nicht wissen, aber sie weiß es. Maren weiß auch, dass während einer Schwangerschaft ein Teil der Untersuchungen nur dazu dienen, zu verhindern, dass mehr Menschen geboren werden, die so wie sie sind. Das ist Maren unverständlich, aber sie versteht schon sehr gut, was da vorgeht. Man will kein Kind, das nicht normal ist, das so wie Maren ist. Papa sagt: Niemand ist normal und wer es doch ist, muss verrückt sein. Grundsätzlich werden Menschen nicht gemocht, die nicht so sind, wie alle anderen, die nicht in diese Welt passen, in der es um Leistung geht, die dem ganzen Druck nicht standhalten können oder wollen. Für Maren ist vieles schwieriger als für andere und gerade wenn man etwas tun muss, bedeutet das für Maren starken Stress.

Das Gefühl, dass sie ständig helfen muss, bekommt sie aber nicht weg. Sie macht sich nützlich, wo sie kann, als ob ihr nur das eine Berechtigung gäbe, zu existieren. Als ob ein Mensch nicht auch einfach nur zum leben geboren wäre. 


menschen treffend: anna

Ob sie die Polizei verständigen soll, fragt Lea ihre Freundin Anna. Sie kennt diese Abende, wenn Anna mit ihren zwei Kindern plötzlich vor Leas Tür steht und Sturm läutet, aber so panisch hat sie Anna noch nie gesehen. Anna zittert am ganzen Körper, versucht ihre Kinder anzulächeln, aber es will ihr nicht gelingen. Lea setzt die drei auf das Sofa, schaltet den Fernseher ein und macht einen Tee. Anna versucht ihre Tränen zu verbergen, aber es gelingt ihr nicht ohne Schluchzen, sie schnappt immer wieder nach Luft. Erst nach einer halben Stunde beruhigt sie sich, lässt sich von Lea und dem warmen Tee beruhigen. Anna kennt das schon, man würde nicht formulieren, dass sie es schon gewohnt ist, aber irgendwie ist es doch so. Die Schreie, die Schläge, die Gegenstände, die durch die Gegend fliegen und die Blicke ihrer verängstigten Kinder, wenn Christoph, ihr Mann, wieder mal ausrastet. Die Gründe dafür waren vielfältig, es musste nicht mal Alkohol im Spiel sein, es reichte, dass Anna sich nicht sofort meldete, wenn Christoph sie anrief, er nicht wusste, wo Anna ist. Oder er wieder mal das Gefühl nicht loswurde,  Anna würde ihn betrügen, was schon allein deswegen völlig unbegründet war, weil sie ja ohnehin niemand treffen durfte, zumindest keinen Mann. Lea hat wiederholt mitbekommen, wie Christoph anrief,  um zu überprüfen, ob Anna tatsächlich bei ihr sei. Schon wenn Anna ehemalige Kollegen auf der Straße traf, wurde Christoph misstrauisch, deswegen erzählte sie auch nicht mehr von solchen Begegnungen. Wobei Anna sich mit dem Leiter der Kindergartengruppe, in die ihr Sohn Jonas geht, in den letzten Wochen öfters zusammengesetzt hat, weil er sich Sorgen um Jonas machte, weil dieser sich wiederholt in die Hose gemacht hatte. Aber auch davon hat Anna nicht erzählt, weder das mit Jonas und auch nicht, dass da dieser Kindergartengruppen-Leiter ist, der ihr ein gutes Gefühl gibt.

Das konnte Christoph also nicht wissen, oder doch? Auf jeden Fall ging es heute wieder um Eifersucht, aber Christoph hatte nichts konkret angesprochen, der Streit und die folgenden Auszucker wurden vielleicht einfach nur dadurch ausgelöst, dass Anna sagte, er solle sie in Ruhe lassen. Aber so genau weiß sie es nicht mehr, es ging so schnell. Und heute war es anders, anders als sonst, denn Christoph hatte die alarmierenden Worte in den Mund genommen, er würde sie umbringen, alle. Sowas hatte Christoph bisher nie formuliert, Anna wusste nach einiger Zeit beruhigt er sich wieder und entschuldigte sich sogar, aber sie wusste nicht, wo das alles herkam und wie sie nach so einem Ausspruch jemals wieder ruhig einschlafen sollte. Das war der Moment, wo Anna sich mit den Kindern im Kinderzimmer einsperrte und tatsächlich erstmals die Polizei anrief, weil sie einfach Panik hatte. Als die Polizei eintraf, war Christoph bereits verschwunden, Anna hatte keine Ahnung wohin. Anna hatte ihre Sachen gepackt, ein bisschen Spielzeug und Gewand für die Kinder – und die Zahnbürsten, sie ist sogar nochmal zurückgelaufen, um die Zahnbürsten zu holen – und dann fuhr sie mit dem Taxi zu Lea, auch wenn die Polizei sie auch dorthin gebracht hätte, aber Anna war es eigentlich schon wieder peinlich, dass sie die Polizei angerufen hatte, letztlich erstattete sie nicht mal Anzeige. 

Natürlich könnte Christoph jetzt jederzeit vor Leas Haustür auftauchen, er wusste ja, wo sie wohnt, aber gegen Leas einbruchsichere Tür würde er nicht ankommen und im schlimmsten Fall, würde Lea direkt wieder die Polizei rufen. 

Sie kann nicht mehr zurück, das ist Anna klar, jeglichen Zweifel daran, hat Lea ihr schon ausgeredet. Anna glaubt natürlich nicht daran, dass Christoph es ernst meinte. Er würde sie doch nie umbringen, schon gar nicht die Kinder. Oder doch? Vielleicht schon. 

Gerade letzte Woche wurden wieder zwei Frauen von ihren Männern ermordet. In letzter Zeit gab es eine regelrechte Häufung solcher Fälle, wo Frauen erstochen, erschossen, erwürgt oder erstickt wurden. In diesem Jahr gab es schon viele Frauen, die zu Opfern gemacht wurden oder – so hart es klingt – zu Leichen. Anna hatte das auch in den Zeitungen mitverfolgt, jeden Monat, dann jede Woche eine neue Tat. Als ob Femizide ansteckend wären oder sich die Männer aneinander ein Beispiel nehmen. In den Nachrichten war von Beziehungstaten die Rede, als ob Gewalt oder Mord selbstverständlicher Teil einer Beziehung wäre. Anna kann nicht leugnen, dass sie auch an ihre Situation mit Christian gedacht hatte. Will man mit so jemanden zusammenleben, mit jemanden vor dem man Angst hat, mit jemanden bei dem es zumindest den Zweifel gibt, ob er nicht auch mal den unumkehrbaren Schritt zu weit gehen könnte. Seit Monaten wenn nicht sogar seit Jahren hatte Lea auf Anna eingeredet, sich zu trennen, Anna hatte es nie geschafft, aber nun gibt es kein Zurück mehr. Sie hebt nicht ab, als Christoph dann anruft, kurze Zeit später kommt eine SMS, dass es ihm leidtue, dass er es nicht so gemeint hätte, dass er sie liebe. Anna antwortet nicht. Es kommt eine SMS mit Herzen, Anna antwortet wieder nicht, auch wenn es ihr schwerfällt. Fünf Minuten später kommt ein SMS, dass er sich umbringen werde und zehn Minuten später, dass sie eine dumme, wertlose Sau sei und Christoph sowieso auf sie spucke. Die letzten beiden SMS liest Anna nicht mehr, Lea löscht sie gleich. Anna sitzt zu diesem Zeitpunkt schon wieder bei den Kindern am Sofa und versucht erneut ihre Tränen nicht zu zeigen und nicht nachzudenken, wie es weitergehen könnte. 

Es ist unbegreiflich, warum es immer wieder zu solchen oder ähnlichen Fällen kommt. Es ist befremdlich, dass Frauen immer noch besonderen Schutz bedürfen, dass es Institutionen wie Frauenhäuser geben muss, dass Selbstverteidigungskurse explizit für Mädchen angeboten werden, damit sie sich wehren können, dass Frauen gewisse Verhaltensregeln nähergelegt werden, damit sie nicht zu Opfern werden. Das wird Frauen beigebracht.

Und es ist tatsächlich so, dass Kurse für Männer angeboten werden, in denen diese lernen sollen, mit ihrer Wut, ihrer Aggression umzugehen, anders umzugehen als anderen oder sich zu schaden. Sie müssen es in Kursen lernen, weil es ihnen davor nie beigebracht wurde. 


menschen treffend: ivan

Vielleicht ein guter Zeitpunkt um zurück zu blicken, denke ich, schwebend in einem dieser freien Momente, die es zu wiederholen gilt. Vielleicht ist das Glück, frage ich mich, oder das, was man sich darunter vorstellt, kurz bevor man stirbt. Das wäre eine Vorhersehung. Vor einem selbst ausgestellt, distanziert von der Welt, die sich gerade selbst isoliert. Nur selten eine Joy Division. 

Die elektrische Zahnbürste dreht ihre Kreise, vibriert vor sich hin, da ist ein Schmerz, hinten rechts, Oberkiefer. Dieser Zahn könnte sich lösen. Und hängt da nicht sogar schon ein Stück Haut?  Fading away. Im Schminkspiegel, unwirklich vergrößert, schaue ich in einen Mund. Das ist sicher Blut, was nun ins Waschbecken gespuckt wird. Vielleicht nur eine Häutung, wahrscheinlich war sie überfällig. Es könnte ein neuer Zustand, ein neues Bewußtsein folgen, so genau weiß ich es nicht, und eigentlich glaube ich auch nicht daran.  There´s Blood on the dancefloor, aber es ist eigentlich nur ein Badezimmer. 

So alt bin ich eigentlich noch gar nicht, wie ich mich fühle, in den Momenten, in denen ich das überhaupt kann. 

Ich komme mir oft so jung vor, als ob die Jahrzehnte, die ich überlebt habe, nur Jahre gewesen wären. So much older then I´m younger than that now.

Das, was da mir Spiegel im entgegentritt, hat eigentlich gar nichts mit mir zu tun. Ein beschränkter Mund, die undefinierte Frisur, die müden Augen, die leere Augen, der grimmige Ausdruck als Eindruck insgesamt.  So könnte ich geworden sein, ist einfach passiert in dem, was man noch Leben nennt. Was habe ich übersehen? 

Ich habe gelernt mit Messer und Gabel zu essen und höflich zu sein, zu anderen. Und habe es dann doch oft vergessen, griff einfach zu. 

Ich habe gesehen, dass dies ein Prinzip dieser Welt ist, das ich hasse. Da ist soviel, was ich an mir hasse, was sich nicht gut anfühlt. Ich dürfte mir vielleicht auch das angelernt haben. Aber man kann auch verlernen, sich etwas wieder abtrainieren, aber das ist dann die Anstrengung, das braucht Zeit. Time is on my side. Vielleicht ein Trost.

Ich lerne Gitarre zu spielen, ich lerne geduldig zu sein, ich lerne zu verzeihen, neben vielem Anderen. Vielleicht habe ich es auch das meiste schon gelernt, außer 3 gerade Akkorde anzustimmen. Ich kann immer noch nicht singen. Auch habe ich noch kein einziges Lied geschrieben. 

Ich denke an die vielen Vorbilder, an die Künstlerinnen, die mit Tönen oder Sätzen, die mit Normen und Formen gespielt haben. Ich denke daran, was sie geschaffen und hinterlassen haben. Ich denke daran, dass viele in meinem Alter schon tot waren. Etwas in dieser Größe schaffen, überhaupt noch etwas schaffen. 

Oft kommt dieser Gedanke und dann geht es doch weiter. Man kann ja nicht stillstehen, ich zumindest nicht. Man muss immer weiter durchbrechen, höre ich in mir, wiederkehrend, und wie Dirk von Lowtzow das singt, bezeichnenderweise auf einem Track von Egoexpress. 

Man blickt zu oft auf andere Menschen, eigentlich ständig, und zu selten auf sich. Verliert sich schnell selbst aus den Augen, auch wenn man sich eben auch in den anderen erblickt. Das sollte ich mir aufschreiben, denke ich, das hätte ich schon zu einem früheren Zeitpunkt notieren sollen. Ich habe wahrscheinlich wieder einen Moment zu lange gezögert. Morgen würde ich es lesen und darüber nachdenken. Vielleicht nur ein banaler Gedanke, nicht viel mehr als ein Traum, dem man eine hohe Bedeutung zuschreibt und letztlich doch nicht wirklich aufregend ist. 

Ich erinnere mich daran, dass ich nichts richtig erinnere. Und ich frage mich, was mit mir nicht stimmt und auch weiter mit meiner Wahrnehmung nicht. Vielleicht sehe ich alles falsch, vielleicht empfinde ich nicht richtig. Unabhängig davon, ob falsch und richtig so überhaupt existieren; Begrifflichkeiten. Was ist schon eine psychische Störung, wenn das, was als normal gilt, so völlig von allem entfremdet ist, was eigentlich sein sollte. Wie es eigentlich laufen sollte … Der Lauf der Welt ist ein anderer. In den müsste man eingreifen, da ist sie wieder die Wut. Nein, es ist nicht das vage „Welt“ gegen die sie sich richtet. Zu fest angedrückt, das rote Licht auf meiner elektrischen Zahnbürste leuchtet auf. 

Die andrängenden Bilder machen ein Augenschließen unmöglich. Die endlose Addition und Akkumulation, eine Wucherung. Da ist soviel, was man wissen will und nicht vergessen kann. Don´t look back. Soviel Unerlebtes und Unausgesprochenes. 

Ich habe bemerkt, dass meine Wahrheit nicht unbedingt stimmig ist, weil der Nächste Vieles schon anders sieht. Ich merke, ich kann immer nur von mir ausgehen. Und darin, frage mich, kann man sich nicht anders ausdrücken als absolut? Das müsste ich jetzt laut aussprechen, sonst bleibt es unverständlich, auch für mich. Aber will ich so spät das Bild einer gewissen awkwardness verstärken, auch wenn die potentiellen Zeuginnen wohl schon schlafen? So bleibt vieles ungesagt, auch ohne Zahnbürste im Mund. Und schon wieder vergessen, übersehen. Wieder nicht festgehalten. Manchmal fehlen mir die Worte, auch solche, die ich schonmal gehabt habe. 

Ich weiß, dass die Sprache begrenzt ist. Ich genieße es aber auch, wenn sich das Schweigen einstellt. Wie jetzt die Stille, als das schönste Geräusch ohne Laut. Lautstärke, denke ich, ist eine seltsame Wortkreation. Ich habe bemerkt, dass sich das durchsetzte, was am lautesten geschrien wurde. Dass man am besten damit durchkommt, einfach etwas zu behaupten, anstatt, tja, echt zu sein. Aber was ist das schon, wer weiß das schon. Manchmal ich selbst nicht. Wer bin ich eigentlich?

Ich merke, wie wirr meine Gedanken sind, wie ungeordnet. Zahnseide vergessen, verdammt.  Ich sollte noch meine Todo-Liste durchgehen, vielleicht was abhaken und ergänzen. Das Katzenklo müsste wieder mal gemacht werden. Warum liegt das Handtuch am Boden? Und was löst das – zum Teufel! – schon wieder in mir aus?! Can I scream?

Ich darf nicht böse sein, wenn Menschen sich falsch verhalten, höre ich mich, in mir, mir vorsagend. Man kann nicht alles steuern, man kann nicht alles überblicken und eventuell steuern. Zwei Wörter sollte ich überhaupt vermeiden, nämlich „böse“ und „falsch“, daran erinnere ich mich selbst, leider meist erst, wenn ich sie ausgesprochen habe. 

Gesichtsmaske auftragen, Poren reinigen. Alles schwarz: die Reinigungscreme, die Zahnpasta, das Handtuch, der Schlafanzug. Ein Tick, eine Einbildung, eine Exaltiertheit, die ich mir leiste. „Until things are brighter, I´m the Man in Black“, sang Johnny Cash, ziemlich verbohrt sich diesen Satz als Vorsatz zu nehmen. Aber wie andere Sätze blinken sie in mir auf, wahrscheinlich als Leuchtturm. Ich hab soviel von Songs gelernt, ich habe soviel von Lyrics gelernt, von Gedichten und Büchern. Ich habe von Menschen gelernt, was es heißt, Mensch zu sein. I feel the connection with your imperfection. Und auch vom Leben, habe ich gelernt. Aber es hat mich müde gemacht, deswegen gehe ich jetzt schlafen. Und bei meinem täglichen letzten Blick aus dem Fenster, lerne ich vor allem Demut, wenn der Mond mir so hell entgegenstrahlt, und denke nicht daran, das dies auch nur falsche Romantik sein könnte.