menschen treffend: gerda

Gerda hätte es nicht mitbekommen sollen, es war nicht für ihre Ohren bestimmt, das lockere Gespräch zwischen zwei ihrer Kollegen in einer kurzen Kaffeepause, in das sie, auch einen Kaffee holen wollend, zufälligerweise hinein stolperte. Gerade wurden die Gehälter in der Firma angehoben, allerdings unter der aktuellen Inflation, da es der Firma im Moment nicht so gut gehe. Und darüber unterhielten sich die zwei Männer, echauffierten sie sich, stehend, aufgebracht, Kaffee trinkend, in der Kaffeeküche. Über Geld wird allgemein nicht so gerne gesprochen, eigentlich gar nicht, folglich auch nicht übers Gehalt. Aber durch das Gespräch der zwei konnte Gerda den Betrag aufschnappen, den ihr Kollege Monat für Monat, vierzehnmal im Jahr gezahlt bekommt. Und dieser Betrag lag über zehn Prozent über ihrem Gehalt. Jetzt muss man wissen, dass Gerda und ihr Kollege am gleichen Tag in die Firma eingestiegen sind, eine ähnliche Ausbildung haben, sogar eine ähnliche Berufserfahrung, denn ihr Kollege ist um gut 20 Jahre jünger und fast direkt nach seinem Studium bei der Firma angestellt worden. 
Gerda hat den Inhalt des Gesprächs still aufgenommen, hat sich einen Kaffee eingeschenkt und ist zu ihrem Arbeitsplatz zurückgegangen um dort in aller Ruhe den tatsächlichen Unterschied zwischen dem Gehalt des Kollegen und ihrem Gehalt auszurechnen. 12,7 Prozent. 12,7 Prozent! 12,7! Prozent! Das sind 46 Tage, die sie im Jahr unbezahlt arbeitet, in Relation zu ihrem Kollegen, oder anders gerechnet: Jedes 8. Jahr arbeitet Gerda gratis. 
Und warum? Es gibt keine Grundlage dafür. Wenn, dann sollte sie mehr verdienen als ihr Kollege, schließlich steht sie nicht den halben Tag in der Kaffeeküche, startet ihre Arbeitstage nicht mit ausführlichen Gesprächen über „das gestrige Spiel“. Das könnte sie jetzt auch ausrechnen, wieviele Minuten ihr Kollege, ihren Kollegen täglich weniger arbeiten als sie, aber sie begnügt sich damit es zu schätzen: 32.
Gerda erinnert sich an das Einstellungsgespräch und die Frage, die sie damals schon kurz irritierte, nun aber, an ihrem Arbeitsplatz sitzend, ihr nochmal zu denken gibt. Es war die Frage: Ob sie Kinder habe, wie alt sie denn seien und ob sie vorhabe noch ein Kind zu bekommen. Das geht ja eigentlich niemanden was an, denkt Gerda jetzt, aber im damaligen Moment interpretierte sie das eher als familiäre Atmosphäre, ein lockeres Gespräch. Jetzt denkt sie, dass sie den Job wahrscheinlich nur bekommen hatte, weil sie klar verneinen konnte, nochmal Kinder zu bekommen und ihre Kinder schon alt genug waren. Krankenstände, Pflegeurlaube, schulferienbedingte Abwesenheiten waren also keine Bedrohung mehr für einen Arbeitgeber, der daran interessiert ist, dass diejenigen, denen er Arbeit gibt, auch verlässlich sind. 
Gerda ist relativ früh Mutter geworden, was ihr auch oft genug gesagt wurde. „Gerda, du hast die Kinder einfach zu früh bekommen.“ Oder im falschen Moment – aber das ist natürlich ein Blödsinn. Was soll das denn heißen. 
Besser sei, wurde Gerda gesagt, zuerst Karriere machen und dann, wenn man im Job einen festen Stand hat, schwanger zu werden, am besten so, dass die Mutterzeit nicht in die stressigste Zeit am Arbeitsplatz fällt, und dann relativ schnell wieder an diesen Arbeitsplatz zurückzukehren, bevor jemand anderes einen abkömmlich macht. 
Gerda hatte sich damals anders entschieden, gegen eine Abtreibung und damit ganz klar auch gegen die große Karriere. Sie hatte sich für ihre Kinder entschieden, denn – und das ist auch heute noch ihre Überzeugung – letztlich wird am Ende ihres Lebens nicht ihr Vermögen entscheidend sein sondern nur die Frage, ob sie ein schönes Leben hatte. Das könnte sie bejahen, die Zeit als die Kinder noch klein waren, hatte sie sehr genossen, auch wenn sie beobachtete, wie Freundinnen an den Wochenenden fortgingen und scheinbar Spaß hatten, in ihren Augen vielleicht aber auch nur den Stress von der Arbeit wegtranken. 
Als die Kinder dann in die Schule kamen, wollte Gerda damals wieder in ihren alten Beruf einsteigen, ihre Buchhalterinnen-Tätigkeit hatte sie gelernt und machte ihr eigentlich auch Spaß. Der Wiedereinstieg war allerdings schwierig. Ihr Mann hatte zu Gerda gesagt, dass sie eigentlich nicht arbeiten müsste, er verdiene ohnedies für mehr als zwei. Gerda wollte aber arbeiten, selbst Geld verdienen. So hatte Gerda als Kellnerin angefangen, kurz in einem Supermarkt an der Kassa gearbeitet, dann als Kanzleiangestellte oder besser gesagt Sekretärin. Erst vor drei Jahren hatte sie dann diesen Job gefunden, ganz klassisch in einer Zeitung ausgeschrieben, hatte sich beworben und sie hätte sich eigentlich vorstellen können, hier auch zu arbeiten.
Sie ist nicht nur verblüfft, sondern auch völlig vor den Kopf gestoßen, dass sie tatsächlich weniger verdiente als ihr Kollege, der eigentlich auch ihr Sohn sein könnte. Weil er Anzüge trägt? Weil er im Stehen pisst? Weil der Small Talk mit ihm einfach lustig ist und seine Art so schön locker? Oder einfach nur, weil selbst im Jahr 2022 das Geschlecht immer noch reicht um als Mann 12,7 Prozent mehr zu verdienen als weibliche Angestellte. Gerda hätte es nicht geglaubt, aber so ist es. 
Gerda steckt den Taschenrechner in ihren Rucksack, fährt den Computer runter, stellt den Stuhl zum Tisch und macht sich auf den Weg zu ihrem Vorgesetzten. Sie wird ihn allerdings nicht fragen, warum ihr männlicher Kollege, der am gleichen Tag in die Firma eingestiegen war, eine ähnliche Ausbildung hat, auch nicht mehr Berufserfahrung aufweisen kann, um mehr als 20 Jahre jünger ist als sie und eigentlich ihr Sohn sein könnte, um 12,7 Prozent mehr als sie gezahlt bekommt, und das obwohl er durchschnittlich 36 (das hat sie doch noch ausgerechnet) Minuten seiner Arbeitszeit mit überflüssigen Gesprächen verbringt, sondern Gerda geht zu ihm um auf der Stelle zu kündigen, soviel ist sie sich wert.