menschen treffend: ali

Da sitzt jemand und trinkt Wasser aus einem Plastikbecher. Er sitzt und hält sich im Hintergrund, während nach und nach Leute zur heutigen Vernissage eintreffen, gut gelaunt sind sie, vielleicht schon etwas angeheitert, gut angezogen sind sie, aber das tut nichts zur Sache. Nennen wir ihn mal Ali, den mit dem Wasser, weil Ali passt gut für jemanden, der nicht so aussieht, wie der durchschnittliche Österreicher und nüchtern die Szenerie betrachtet. Aber er könnte auch Mohammad oder Morteza heißen, er könnte als Frau auch Sahar oder Medina oder Soghra oder auch ganz anders heißen, im ersten Moment fremd klingend, wenn man den Namen hört, ungewohnt. 

Die wenigsten wissen wahrscheinlich, wie dieser Mann in der Ecke heißt, niemand weiß, dass er vor einer halben Stunde noch den Boden gekehrt hat, auf dem jetzt alle laufen, die Glühbirne beim Eingang der Galerie ausgewechselt hat – und war das auch Ali, der die Becher noch schnell besorgt hat? 

Ali ist ein sogenannter Asylwerber, also jemand, der nach der Flucht aus seinem Land in diesem Land um Asyl angesucht hat, also um Schutz, um einen Aufenthaltstitel, um eine neue, eine bessere Perspektive als die vergangene. Wir haben mittlerweile viele Alis im Land, manche sagen „zuviele“, andere stören sich nicht daran auch mal jemand anderem zu begegnen als Manfred oder Gerhard oder Sebastian. 

Als im vergangenen Jahrhundert die Gastarbeiter kamen, nein, gerufen wurden, waren sie nützlich, auch sie hatten für die Mehrheit ungewöhnliche Namen, aber sie erledigten ihren Job, meist die Drecksarbeit, sie durften nicht nur arbeiten, sie mussten arbeiten, schließlich waren sie genau dafür da. Ali wurde nicht gerufen, er ist gelandet, nicht im Flieger sondern per Zufall. Und jetzt ist er da und sitzt in der Ecke und schaut vor sich hin, etwas deplatziert, am Rand. Ali darf nicht arbeiten, zumindest solange nicht, bis er mit seinem Wunsch nach Akzeptanz (denn viel mehr ist es erstmal nicht) für sich und seine Familie erfolgreich ist. Dann dürfte Ali erstmal bleiben, wäre geduldet, dürfte sich vielleicht auch nach einem Job umsehen. Was war Ali eigentlich von Beruf, in dem Land aus dem er kam? Schneider, Marktschreier, Frisör, hatte er seinen eigenen Laden, war er irgendein Arbeiter? Oder war er gar Arzt? Macht erstmal keinen Unterschied, denn egal, was er gelernt hat, er dürfte es ohnehin nicht anwenden. Noch nicht. Und welches Land hat er überhaupt verlassen? Iran, Irak, Afghanistan? Das weiß niemand so genau. Das Übliche oder doch etwas Außergewöhnlicheres?  Irgendein afrikanisches Land? Nein, so sieht er nicht aus, dafür ist seine Hautfarbe dann doch zu hell. Man könnte ihn natürlich fragen, dann würde er es auch sagen, denn schließlich kann er mittlerweile auch ganz gut deutsch sprechen, besser vielleicht als mancher Einheimischer. Ja, Ali kann auch sprechen, vermutet man gar nicht, weil er ja in seiner Ecke nichts sagt, wenn man ihn nicht direkt anspricht. Dann käme er langsam mit der Sprache raus, könnte man jetzt denken. Was wohl in seinem Kopf vorgeht, könnte man sich fragen. Vielleicht die Anhörung zu seinem Asylverfahren, die ansteht. Oder er denkt an seine Kinder, die jetzt langsam zu Bett gehen werden, während die Ausstellung erst zu eröffnen sein wird. 

Ali weiß das nicht, aber er ist ein wesentlicher Teil dieser Ausstellung, nicht als Ausstellungsobjekt oder Kunstwerk, nein, seine Hilfe bei der Vorbereitung macht ihn zu einem wichtigen Glied in der Kette für einen gelungenen Abend, an dem auch gefeiert werden soll, was Ali ebenso nüchtern betrachten wird. Er ist ja so brav und darüber hinaus auch noch höflich. 

Jajajajaja, Ali der gute Ausländer, der arme Ausländer, der freundlich lächelt und seine eingeübten Stehsätze zum Besten gibt, dem man dankt, in dieser Runde aus einer gewissen politischen Korrektheit auch, weil es ist ja so wesentlich und höchst an der Zeit, dass alles etwas durchmischter wird und bunter (Kotz!) und die fremden Kulturen uns bereichern. Alles so spannend, man denke sich die begeisterten Kommentare dazu. Man denke an das Essen und die Musik und die Dichtungen… 

Man denke: Vielleicht ist Ali auch ein Arschloch, vielleicht verachtet er die ganze Gesellschaft, hier, wo Wein Glas um Glas hinuntergeschüttet wird, diese Dekadenz, vielleicht würde er die Szenerie liebend gerne verlassen oder sprengen, hoffentlich nicht im wörtlichen Sinn. Man weiß ja nie. Vielleicht kann er gar nicht dankbar sein, dafür, dass er jetzt hier sitzt, sitzen darf, als einer von vielen, wenn auch nicht als einer von ihnen. Vielleicht freut er sich schon darauf, das alles hinter sich zu lassen, sobald er einen positiven Asylbescheid hat, wieder etwas hinter sich zu lassen, schließlich hat er auch sein Heimatland so leichtfertig verlassen. Könnte man denken, könnte man sich vorstellen oder unterstellen. Würde es einen Unterschied machen? Also wenn es so wäre, dass Ali nicht, in seine Gedanken versunken, traurig sondern wütend wäre, wenn er auch nicht dauernd Lust hätte, freundlich zu sein. Wenn er sein scheiß Wasser am liebsten durch den ganzen Raum spritzen würde, weil er in einem Moment auch nicht so genau weiß, wie er steht, wie er fühlt, wie er all sein Fühlen und Denken, wie er all seine Erfahrungen – die alten und die neuen – verarbeiten soll. Wahrscheinlich würde ihm dieser Ausbruch nicht so leicht verziehen. Das würde Ali völlig anders dastehen lassen. Ganz sicher auch, wenn man draufkommen würde, dass Ali gar nicht Ali heißt sondern Mohammed oder Pedram oder irgendwie anders, und dass seine Fluchtgeschichte nicht viel mehr ist als eine Story, eine Geschichte, die ohnehin schon immer viel zu sehr anderen Geschichten von Flüchtigen glich. Vielleicht ist Ali auch ein gesuchter Terrorist oder zumindest ein potentieller. Vielleicht schlägt er seine Frau und seine Kinder. Dann haben das wahrscheinlich auch alle schon geahnt oder vermutet. Alles nur vielleicht, viel zu leicht gleitet man in Überlegungen ab, die auch nichts anderes sind, als Erzählungen, die man sich aus den Medienberichten selektiert hat. 

Der da sitzt und sein Wasser in aller Ruhe ausgetrunken hat, heißt aber Ali und er hat auch einen Nachnamen und er hat eine Vergangenheit und er sollte eine Zukunft haben, die man sich besser ausdenken sollte. Man weiß viel zu wenig noch über Ali. Das könnte man ändern, man müsste ihn nur mal ansprechen, von Mensch zu Mensch.