menschen treffend: bruno

Es regnet. Trotzdem geht Bruno mit seinem Hund spazieren, wie jeden Tag, in der Früh und am Abend die lange Strasse entlang, die aus der Stadt führt, und am Nachmittag den kleinen Hügel hinauf, der nur wenige Meter von seinem Haus entfernt liegt. Die Nachmittagsstrecke hat den kürzeren Weg, dafür ist man schneller bei einer großen Wiese und es gibt keine Autos, die an Bruno und seinem Hund vorbeibrettern. Die Nachmittagsstrecke hat Bruno, erst Jahre nachdem er an den Stadtrand gezogen war, entdeckt. Am Beginn des Hügels steht ein Schild, das auf das Einfahrtsverbot und mit dem Schriftzug „Privatbesitz“ auf das Betretungsverbot hinweist, immer schon und immer noch und mittlerweile sehr verrostet. Irgendwann war Bruno dann die kleine verfallene Straße, die auf den Hügel führt, entlanggegangen und stand nach verwachsenen Hängen und vor sich hin wachsenden Bäumen plötzlich vor einem großen Grundstück mit einem Haus, wobei das Haus kein Haus im herkömmlichen Sinn sondern eher ein Gebäudekomplex war und immer noch ist. Und dieser Gebäudekomplex ist verfallen. Bruno musste erst lernen oder vielmehr googlen, dass dies hier eine Schule war bevor sie vor Jahren aufgelöst wurde. Man kann die einzelnen Teile dieses Komplex erahnen: Den umzäunten Sportplatz mit Fußballtoren, die Wiese mit verwachsenem Tischtennistisch, die Parkplätze, die Klassenzimmer, den Verwaltungstrakt, Werkstätten, eine Wohnung für den Hausmeister und ein Teil, der vielleicht sowas wie ein Internat war, zumindest den Schildern mit „Anlieferung“ und „Küche“ nach zu schließen.  An den Fenstern noch Zeichnungen mit Sprüchen von SchülerInnen, in Englisch, warum sie hier gerne zur Schule gehen.  Wieviel Schüler und Schülerinnen sind hier wohl täglich zur Schule gegangen? Wieviele haben hier übernachtet? Und warum, verdammt nochmal, ist dieser Ort sich selbst überlassen worden? Alles hier ist dem Vergessen, dem Verwittern und offensichtlich auch jenen überlassen worden, die mit den Jahren ihre Graffitis und Reifenspuren hinterlassen haben, jenen, die wahrscheinlich auf der Suche nach Abenteuer, Fensterscheiben eingeschlagen und Türen geknackt haben. Man hört, mittlerweile gäbe es eine Kameraüberwachung und ein Alarmsystem und die Polizei würde regelmäßig vorbeischauen. Die Polizei hat Bruno hier allerdings noch nie gesehen und die Frage stellt sich natürlich, für was diese überhaupt kommen sollte, wenn sich der Besitzer offensichtlich nicht um diesen Gebäudekomplex, der soviel Potential hätte, kümmert. Am Haupteingang prangt immer noch ein Schild der Immobilienverwaltung des Landes, die das alles angeblich jedoch schon längst verkauft hat. 
Es ist unglaublich, das denkt sich Bruno jedes Mal, wenn er mit seinem Hund hier raufspaziert. Hier könnte alles belebt sein, eine neue Schule einziehen, ein Veranstaltungszentrum die Gegend beleben, man könnte Wohnungen schaffen, wenn es doch angeblich einen so hohen Bedarf in dieser Stadt gibt, oder man könnte Leute unterbringen, die Schutz suchen, Kinder, die raus aus ihrer Familie müssen, Frauen, die raus aus ihrer Ehe müssen, Menschen, die keine Wohnung haben oder Menschen, die aus ihrem Land rausmussten und Schutz in unserem Land suchen. Keinen Kilometer Luftlinie entfernt liegt tatsächlich ein Flüchtlingsheim, wobei man diese Flüchtlingsunterbringung, die entlang einer Landstrasse völlig im Nirgendwo errichtet wurde, eher ein unattraktives Containerdorf nennen müsste, das, wie man hört, in den letzten Tagen nun auch mit Zelten erweitert wird. Jetzt regnet es, aber bald kommt der Winter und der Schnee und die Kälte, denkt sich Bruno, und die Menschen werden in Container und Zelte gesteckt. Und fast in Sichtweite liegt, über den Fluss ein riesiges leerstehendes Haus, nein, mehr als ein Haus, das tatsächlich Unterschlupf und auch einen gewissen Standard bieten könnte. Was ist bloß los mit unserer Gesellschaft?, denkt sich Bruno, eigentlich jeden einzelnen Nachmittag, wenn er seine Nachmittagsstrecke mit seinem Hund dahinspaziert. Es ist eine Schande. 
Und Bruno erinnert sich, nicht nur wie sondern auch warum er neugierig das erste Mal diesen Hügel raufspaziert ist. Tage davor hatte er in seinem Briefkasten einen Zettel gefunden, darauf war eine blutrote Hand und das Wort „STOPP“ abgedruckt, und „Gegen das Asylquartier in unserem Stadtteil“. Es war ein Flugzettel der Sozialdemokratischen Partei; und Bruno hat seinen Augen nicht getraut. Mit einem Schlag war sein Bild von der Partei, die immer für die Schwachen, die Entrechteten kämpfte, sich für Menschenrechte und Gerechtigkeit eingesetzt hatte, in sich zusammengefallen. Es war also diskutiert worden, dass an dieser Stelle ein Quartier für Asylwerber errichtet wird und die in dieser Stadt mit Mehrheit regierende Partei hatte dagegen propagandistisch agitiert. Unglaublich, denkt man sich, aber Bruno hat den Flugzettel aufgehoben, es ist seine Erinnerung daran, dass jede Fassade bröckelt sobald man nur einen kurzen Blick dahinter macht. 
Letzte Woche ist Bruno das erste Mal in den Gebäudekomplex eingestiegen, kein Alarm, keine Kameras in Sicht, keine Polizei. Das Gebäude ist innen wie außen noch gut in Schuss, man müsste es nur etwas renovieren. Ja, beim Gebäudekomplex bröckelt noch nichts, ein wenig Vogelscheiße in den Ecken, zunehmend mehr eingeschlagene Fenster, die Graffitis werden mehr und aber eher uninspirierter. Es ist dem Verfall offensichtlich preisgegeben, der Verfall ist vielleicht einkalkuliert, Bruno fragt sich, auf was hier spekuliert wird. Und Bruno fragt sich, ob er, obwohl sonst nicht so radikal, nicht einfach Feuer legen sollte, damit dieser Schandfleck, der eigentlich etwas völlig Anderes sein könnte, endlich verschwindet und man auf der Asche dann zumindest der Natur die Chance geben könnte, sich auszubreiten.