menschen treffend: gerhard

Langsam balanciert Gerhard noch Mineralwasser, Fruchtsaft und zwei Flaschen Schnaps über die Treppen. Der Kühlschrank ist nun gut gefüllt, im Keller, in seinem ganz persönlichen Kellerlokal. Gerhards Reich. Gebaut als Hobbyprojekt, mit Bar und geräumiger Sitzbank. Alles aus Holz, in großer Kleinarbeit eingepasst in den Raum seines Hauses, der vorher nur als Abstellkammer diente. An den Wänden Spruchtafeln, Urkunden und Glückwunschkarten zur Pension. Und natürlich darf auch die Musikanlage mit Bildschirm nicht fehlen, die theoretisch sogar eine Karaokefunktion hat, in den Ecken Discolichter. Nachdem Gerhard in den Ruhestand ging, war dies sein erstes Projekt, damit ihm nicht langweilig wird. Ein paar mal im Jahr ist das nun der Partykeller, bei dem Familie (Geburtstage), Arbeitskollegen und Freunde (alle zwei Monate, außer im Sommer) eingeladen werden. Gerhards Frau bereitet meist etwas zu essen vor, das dann von Gerhard mit großer Geste aufgetischt wird, denn auch das leibliche Wohl darf nicht zu kurz kommen. Mit all diesen Elementen versammelt, ist der Spaß garantiert, für den man in den Keller muss. 

Spätestens nach drei bis vier Bier und zwei Schnäpsen kocht die Stimmung. Die Sprüche werden lockerer, es wird auch getanzt – sofern Frauen anwesend sind. Meist wird bis weit nach Mitternacht gesellig zusammengesessen, die Zeit vergeht besonders schnell, wenn man sich im Keller trifft.  Aber je später der Abend, desto mehr schweigen die Frauen dann allerdings, gelangweilt und ermüdet vom Gebrüll, von all der Erregung, die sich in diesem privaten Kellerlokal irgendwann garantiert entlädt. Wie war man bloß darauf gekommen? Wie landen Abende stets zielgerichtet bei dem Punkt, wo nur noch gesoffen wird und laut argumentiert. Im Kreis, man bewegt sich sitzend im Kreis, in einem Schwindelzustand. Heute ist es wieder soweit. 

Faulheit scheint ein Problem zu sein, oder es ist zumindest ein Reizwort. Darauf kam gerade das Gespräch, danach die angeregte Diskussion, die mittlerweile ein Streitgespräch ist, das der Alkohol auch anständig befeuert. 

Es regt Gerhard zum Beispiel richtig auf, wenn Leute fürs Nichtstun bezahlt werden oder auch nur Geld haben, obwohl sie keine Arbeit haben, also Arbeitslosengeld bekommen oder Sozialhilfe oder Notstandshilfe. Wie „die Ausländer“, die, wenn sie nicht kriminell sind, unseren Sozialstaat ausnutzen. So ganz verständlich ist es nicht und auch nicht schlüssig, was er von sich gibt, viel auch einfach faktisch unrichtig. In Gerhards Kopf wohnt die Paradoxie von faulen Fremden, die gleichzeitig den Einheimischen die Arbeit wegnehmen, für Gerhard kein Widerspruch. Und niemand sagt was dazu. Man muss schon wollen und dann findet sich auch was, ist Gerhardüberzeugt. Wer also Arbeit sucht, bekommt diese auch, da darf man nicht eitel sein, grundsätzlich ist das Meiste annehmbar. Man kann sich schließlich nicht alles aussuchen und „das Leben sei kein Wunschkonzert“. Eine Formulierung, die an Stumpfheit direkt am „Ernst des Lebens“ anschließt. Toni wollte kurz etwas anmerken, denn er hatte sechs Jahre vor seiner regulären Pensionierung seine Arbeit verloren, und hatte sich dann noch als Zeitungsausträger über Wasser gehalten, was erstens ein Scheißjob war und zweitens seiner Gesundheit nicht zuträglich war. Toni lässt es aber. Schließlich ist Gerhard der Gastgeber und behält ohnehin die Meinungsführerschaft. Toni schaut auf die Uhr, auffällig, der Rest der Runde auch, allerdings unauffällig. 

Gerhard ist gerade bei „Leistung muss sich wieder lohnen“ und „Strafe muss sein“. Die Unterhaltung wird bruchstückhafter und zielloser. Gerhard monologisiert, der Redefluss will nicht abreißen. Die Stimmung ist, wieder mal, im Keller. 

Man muss sagen, dass Gerhard einer Definition von Leben folgt, das gar keine andere Beschreibung duldet als „hart“. Und blickt man so auf ein Leben, dann gilt es ein paar Punkte zu beachten: 1. Man muss stets fleißig sein, 2.Man muss gut auf sich selbst schauen und 3. Man muss sich gleichzeitig aber auch den Verhältnissen fügen. Daran hat sich Gerhard zeitlebens gehalten, ein wenig Ellenbogen war nötig, ansonsten lief aber alles wie geschmiert. 

Gerhard wuchs in eher einfachen, ärmlichen Verhältnissen auf, als eines von fünf Kindern. Sein Vater hatte stets hart (da haben wir es) gearbeitet, starb früh, Herzinfarkt. Gerhard machte eine Lehre zum Tischler, wovon sein handwerkliches Geschick herrührt, das ihm auch heute noch zugute kommt, wobei er mit Anfang Zwanzig die Chance ergriff bei einem internationalen Lebensmittelkonzern als eine Art Manager zu arbeiten, was ihm nicht nur ein gutes Einkommen einbrachte, sondern auch die Möglichkeit, regelmäßig beruflich um die Welt zu fliegen. Er konnte also ohne schwere Arbeit, im stabilen Job im gleichen Unternehmen, mit ausreichend Freizeit, ohne Existenzängste seine Pension erreichen, die nun überdurchschnittlich hoch ausfällt. Hart ist mit dieser Biographie nur eines: die pauschalen Urteile, die er über Menschen fällt. Dennoch konnte Gerhard es sich wieder mal nicht verkneifen, seine Karriere nachzuerzählen, die in seiner Beschreibung klingt, wie die Story vom Tellerwäscher, der zum Millionär wurde. Ganz soweit brachte es Gerhard zwar nicht, aber er konnte sich sein Arbeitsleben lang stets viel leisten. Wenn man in die Runde schaut, merkt man, dass alle schon sehr müde sind, nur will niemand als erster aufstehen und sich verabschieden, fürchtend, dass dann über ihn gesprochen würde. 

Und dann geht es aber schnell, denn dann will Gerhard einen Witz machen, um die Stimmung am Ende des Abends nochmal kurz zu heben. Er sagt: „Arbeit macht frei, oder nicht?“ Niemand lacht. Kurze betretene Stille, schnell aufgelöst durch die Frage, ob jemand noch ein Bier will. Das ist der Moment, wo Toni aufsteht, sich für die Einladung bedankt und sich verabschiedet, denn er will lieber kein Bier mehr. Dem schließen sich auch die restlichen Männer der Runde an, ist ja schließlich doch schon spät und sie sind ja nicht mehr die Jüngsten. 

Als alle weg sind, wirkt der Keller leer und kalt. Die Party ist aus. 

Gerhard sitzt nicht das erste mal allein am Tisch, auf dem die Reste des Abends stehen. Nicht das erste Mal steht vor Gerhard noch ein letztes Bier. In seiner Brust spürt Gerhard plötzlich einen stechenden Schmerz. Schon oft hat er sich vorgenommen, sich nicht mehr so aufzuregen. Er versucht den Verlauf des Abends zu rekapitulieren. Sein Kopf tut ihm auch weh. 

Er denkt in letzter Zeit oft daran, dass sein Leben theoretisch jederzeit vorbeisein könnte. Angesichts dessen, sind all die Gespräche des heutigen Abends lächerlich. Und: Ich sollte noch etwas Sinnvolles mit meinem Leben anfangen, denkt er sich. Vielleicht zum Lebensabend noch eine ehrenamtliche Funktion übernehmen, das ging sich schließlich sein ganzes Leben lang nicht aus. Etwas zurückgeben, murmelt er vor sich hin, und betet … auf dass der Schmerz morgen wieder weg ist. Gerhard leert sein Bier, schaltet das Licht in seinem Kellerlokal aus und geht die Stufen vorsichtig nach oben.  Er wird morgen aufräumen.