menschen treffend : thomas

„Ich bin Anwalt“, das wäre der Satz, den Thomas jetzt gerne sagen würde, aber das ist er nunmal nicht. Anwalt ist Thomas leider nicht geworden, obwohl sein Vater sich das gewünscht hätte. Thomas ist Webdesigner, arbeitet in einer Grafikagentur, viel am Computer. Hinter Bildschirmen versteckte er sich immer schon gern, was ihm mit Ende Dreißig nun regelmäßig Rückenschmerzen verursacht. Schon als Teenager hing er ständig vorm Fernseher, an der Spielkonsole und verbrachte einen großen Teil seiner Freizeit damit, sich als Held durch digitale Welten zu bewegen. Wenn er nicht gerade im Haushalt mithelfen musste oder auf eine seiner drei Geschwister aufpassen. 

In der engen Wohnung kam man sich natürlich auch dauernd in die Quere, ungestört war er selten, unzählige Male wurden seine Spielstände gelöscht oder eine seiner Gaming-CDs zerkratzt und zerstört. Er hätte natürlich rausgehen können, wie alle anderen auf den Spielplatz der Wohnsiedlung, mit den anderen Kindern spielen, aber da hätten keine Freunde auf ihn gewartet. Auch in der Schule war er ein Einzelgänger, obwohl sich seine Volksschullehrerin sehr bemühte, dass er Freunde findet. Dieselbe Lehrerin, die ihm dann bei jeder Streitigkeit die Schuld gab, wenn er, nachdem die anderen Jungs ihn wieder mal verarscht hatten, erneut eine Rauferei begonnen hatte, was so eigentlich gar nicht stimmte. Das war unfair, klar, fühlte sich für ihn so an, ja, aber oft war er auch verunsichert, ob er nicht doch einfach aggressiver als die Anderen sei, vor allem nachdem er zu einer Kinderpsychologin geschickt wurde. Die Lösung war, dass er sich von den Anderen fernhielt und nach der Schule sofort nachhause ging. Zum zehnten Geburtstag bekam er dann eine NES (Nintendo Entertainment System) geschenkt, seine Eltern wollten ihn aufheitern, weil er so traurig wirkte, so pixelig fing seine Computerspiel-Leidenschaft an. 

Die Jahre vergingen, die Spielkonsolen wurden immer besser, regelmäßig gab es ein Upgrade, Thomas hatte immer das aktuellste Gerät. Seine sozialen Kontakte wurden allerdings nicht besser, auch im Gymnasium, auf das er es aufgrund seiner guten Noten und trotz der Empfehlung seiner Volksschullehrerin doch eine Hauptschule zu besuchen, geschafft hatte, blieb er der Außenseiter. Innerhalb der Klassengemeinschaft war er kaum gefragt, außer im Turnunterricht, wo er einer der sportlichsten war, weil er dort seinen Bewegungsdrang zweimal die Woche dann gebündelt ausleben konnte. Im Turnunterricht fühlte er sich gut und beliebt, das genoss er, gerade weil es danach wieder schwierig wurde. Wenn etwas in der Klasse verschwand, wurde er verdächtigt. Wenn etwas kaputt ging, schob man ihm die Schuld zu. Und erneut war es bei Raufereien immer Thomas, der den Klassenbucheintrag bekam. Zurecht fragte Thomas sich, warum letztlich immer er der Schuldige sein sollte, wo doch gerade er ständig außen vor stand. Und die meiste Zeit beobachtete, welchen Spaß die anderen hatten, welche Pläne die anderen fürs Wochenende ausmachten, irgendwann welche Partys ohne ihn stattfanden. Nur Manuela, die neben ihm saß und mit der er sich ganz gut verstand und über Comics und Computerspiele reden konnte, war ebenfalls nie eingeladen. Aber auch Manuela traf er nie außerhalb der Schule. Während die anderen herumknutschten, saß er zuhause, vor seiner Konsole, bis er diese – genauso wie die Schule – für eine Zeit hinter sich ließ.

Nach der Matura ging er für ein Jahr nach Graz um seinen Zivildienst zu machen, im Altenheim war er beliebt, weil er immer so freundlich und sozial sei, bekam er bestätigt, was er wohl in seiner Großfamilie gelernt habe, wie ihm gesagt wurde, im gleichen Atemzug wie ihm die Senioren und Seniorinnen die seltsamsten Spitznamen gaben und ihn ständig betatschten. 

Nach dem Zivildienst kehrte er wieder zurück in seine Heimatstadt, das Ausgehen in die Bars der Stadt hatte er nie genießen können und er hatte es leid, ständig nach Drogen gefragt zu werden, wenn er durch den Park spazierte.

Zurückgekehrt bekam er einen Job in einer Hosting Firma, die Konkurs ging, wurde aber glücklicherweise von der Grafikagentur übernommen, die ihn auch gleich eine Ausbildung bot, allerdings eher nach dem Motto learning by doing. Er hat schnell gelernt und seine Arbeit wird geschätzt. Das erste Mal fühlte er sich angenommen, als vollwertiger Teil dieser Firma, nicht wie jemand, der nirgends reinpasst und mit niemandem zurecht kommt. 

Genau deswegen arbeitet er dort immer noch, wie er dem Polizisten jetzt schon mehrmals erklärt hat. Nicht dass Thomas wüsste, was den Polizisten das angeht, deswegen hätte er ja gerne einen Anwalt, aber das gibt es so wohl auch nur in Filmen. 

Dass er während der Amtshandlung zunehmend ungehalten wurde, lag nur daran, dass er und sein Auto auch noch durchsucht wurden, als ob es etwas Spannendes zu finden gäbe. Dass er vorhin auf der Wache schrie, lag an der ungeklärten Situation, weil niemand konkrete Aussagen machte, wann er endlich heim darf. Er hat doch schon zugegeben, dass er mit seinen Kollegen wohl ein Bier zuviel getrunken und seine Alkoholisierung unterschätzt hat. Er hätte nicht ins Auto steigen sollen, das war natürlich dumm, aber 0,7 Promille sind auch kein Vollrausch. Führerschein ist wahrscheinlich erst mal weg, scheiße! Strafe soll sein, ja! Aber Thomas will endlich nachhause. Und jetzt behandelt man ihn wie einen Schwerverbrecher. Das regt ihn auf, gleichzeitig ist er erschöpft.

Thomas sinkt auf dem Stuhl in der Wache zusammen. Müde blickt er auf seine Hände, dreht sie langsam hin und her – betrachtet die hellen Innenflächen seiner Hand und den dunkelbraunen Rest seiner Haut.