menschen treffend: andreas

Wie war er bloß auf dieses Podium geraten? Grundsätzlich wusste Andreas es natürlich, aber war die falsche Entscheidung, dass ausgerechnet er bei dieser Veranstaltung teilnehmen musste. Er war nicht zuständig, er war nie zuständig gewesen und trotzdem war er nun anwesend. Mehr nicht. Weißer Leinenanzug, darunter ein leichtes Hemd, die obersten Knöpfe offen, am Rever ein Anstecker seiner Partei. Das hatte er für diesen Abend ausgewählt, sich noch im Dienstwagen umständlich umgezogen. Der Stuhl unter ihm: Thonet-Nachbau, fühlte sich unbequem an. Die tatsächlich Zuständigen hatten sich auf wichtige Termine ausreden können und deswegen musste er einspringen. Er bereute, sich nicht ebenso energisch gegen die Teilnahme gestellt zu haben, denn er war – verdammt nochmal – eben keinesfalls verantwortlich, nicht mal kompetent, aber das würde er so nie sagen. 

Vor ihm saß, mit ein einigen leeren Stuhlreihen Abstand, ein Querschnitt aus Bürgern und Bürgerinnen. Aus den Gesichtern konnte er eine Skala von interessiert erwartungsvoll bis aggressiv enttäuscht lesen. 

Er wusste es ja selbst, dass es scheiße gelaufen war. Man hätte das Projekt von Anfang an anders aufziehen müssen, man hätte nicht das angefangene Projekt der letzten Landesregierung in dieser Art übernehmen dürfen. Zu Recht wird die mangelnde Kommunikation und die schwammige Planung angesprochen. Aber er sitzt nunmal hier um den Status Quo zu verteidigen, irgendwie, so gut es geht, denn alle Informationen zum Projekt hatte er auch nicht, nur ein paar Unterlagen. Und natürlich hörte er beim Eingangsstatement gut zu, aber irgendwann waren die Informationen verschwommen und er konnte nur noch einen Brei an Schlagworten wahrnehmen, klang eh ganz gut. Also ausbaufähig und ambitioniert, aber das hat schon Potential, wird schon, dachte er. Das notierte er sich, oder vielmehr notierte er sich die Schlagworte: Ambitioniert, mutig, zukunftsweisend. Das war ihm so eingefallen. Gerade war da noch der Satz, der fast sloganhaft war oder zumindest ein Sprichwort, irgendwie was mit „Man muss es wagen, um ..“ Nein, es fiel ihm einfach nicht mehr ein. Er machte einen unauffälligen Blick auf seine Uhr. Erst 27 Minuten waren vergangen. Zu gerne hätte er auf sein iPhone geschaut und auf Twitter herumgescrollt, aber das verbat er sich. Ganz unvermittelt kam ein Gähnen in ihm auf. „Ich bin einfach scheiß müde“, dachte er sich. Und richtete sein Jackett. Viel lieber wäre er daheim auf seinem Sofa gesessen oder noch etwas essen gegangen oder würde einfach schon schlafen.

Er wusste, es würde heute zu keiner Verständigung, keiner zufriedenstellenden Lösung oder auch nur Erklärung kommen. Er hasste solche Termine. Hier würde es keine schönen Bilder geben, keine Dankesworte zu sagen, kein Raum für Ansprachen, nichts, einfach nur Gerede und sogenannte Wortmeldungen. Warum muss man auch immer herumdiskutieren?! Das Projekt war am Weg und auch der Verlauf des Abends würde daran nichts ändern. Er schlief fast ein, man kann sagen, er war gelangweilt.

„Bürgerbeteiligung ist ja schon ein schlimmer Versuch sich greifbar zu geben, aber wenn dann auch noch hysterisierte, selbsternannte Betroffene vor einem sitzen… das ist wirklich zu kotzen“, verselbstständigten sich seine Gedanken. Und er musste leicht auflachen. „Burgerbeteiligung. Ein Burger wär jetzt großartig“.

Er riss sich wieder zusammen. Immer noch Rumoren im Saal, Anspannung, Fragen, Antworten, Stimmen. „Oder eine Bratwurst. Senf. Eine Semmel. Bier. Das hätte ich mir verdient.“ Sein Gesicht performte in diesem Augenblick interessiertes Zuhören, es wurde lauter. Die Stimmung war aufgeheizt, dementsprechend war auch die Temperatur im Raum. Das Wasser, das man ihm hingestellt hatte, war leider lauwarm gewesen, er hatte es trotzdem ausgetrunken, schon vor dreissig Minuten und offensichtlich würde sich niemand darum kümmern, dass er ein neues bekommt. Gerne hätte er ein Bier, oder besser ein Glas Wein und ein Glas Wasser, also hätte er aufstehen und zur Bar gehen oder er vom Podium herab darum bitten müssen – oder einfach darauf verzichten. „Gibt es eigentlich einen Hinterausgang? Wie schaue ich unauffällig auf die Uhr? Und wann ist es Zeit auffällig auf die Uhr zu schauen, um zu signalisieren, dass man jetzt doch endlich mal zum Ende kommen könne.“, lief es in seinem Kopf.

Dabei versank er immer weiter in seinem Sessel. Anfangs war das am Stuhl zu rutschen noch ein unbewusster Akt gewesen, er war einfach sehr unbequem, Andreas hatte sich immer wieder aufgerichtet, aber mittlerweile war es ihm egal. Er hatte keine Lust mehr, er hatte sie nie. Er war völlig in sich zusammengefallen. Und dieses Bild konnte ruhig so rezipiert werden.

Er schaute in dieser verkrümmten Haltung in die Gesichter im Publikum und er verachtete jedes einzelne, aber er durfte es nicht zeigen, denn jeder von ihnen war ein potentieller Wähler. Dass er so dachte, seine aggressive Stimmung tat ihm gleichzeitig leid. Der Tag war schon lang gewesen, voll mit Treffen, Sitzungen, E-Mails und Anrufen, und letzte Nacht hatte er schlecht geschlafen. Das interessierte hier niemanden. Er wollte sich nochmal bemühen, Verständnis zu entwickeln und dies auch dementsprechend zu formulieren, aber man hörte ihm nicht zu. Eigentlich war auch dieser Abend scheiße gelaufen, insofern passte die Stimmung perfekt zum Projekt. Die letzten zehn Minuten der Veranstaltung verwendete er, um darüber nachzudenken, wie er hier gelandet war, also wie sein Weg vom engagierten, jungen Parteimitglied zum Berufspolitiker war, und an welchem Punkt die Zwänge angefangen haben und sein Zynismus eingesetzt und er die Verbindung zu den Sorgen der Menschen verloren hat. Für einen Moment wünschte er sich, wieder so mutig denken zu können, wie in seiner Jugend. Dann dachte er wieder daran, wo man noch was zu essen bekommen könnte, denn es war spät, alles hatte schon geschlossen.