menschen treffend: maren

Dass die Mutter ihr Kind von Maren wegzieht, gerade als sich Maren ihrer neuen Freundin vorstellen will, tut ihr weh. Sie steht reglos da und schaut ratlos. Ganz fest am Arm hält die Mutter ihr Kind gepackt und schleppt es weg, das Kind schaut nochmal kurz zu Maren, dann verlässt die Mutter mit ihrem Kind den Spielplatz. Maren weiß nun nicht mal, wie das Mädchen mit den blonden Haaren und dem Eiskönigin-Shirt heißt. Sie hätte sicher mit Maren gespielt. 

Solche Reaktionen kennt Maren, es ist nicht das erste Mal, dass Eltern ihre Kinder von ihr wegziehen als ob sie ihnen etwas tun würde oder eine schlimme ansteckende Krankheit hätte. Es sind immer die Erwachsenen, die irgendein Problem mit Maren haben, dabei ist sie erst 10 Jahre alt. Die Erwachsenen wirken abweisend und irritiert, wenn sie auf Maren treffen und Maren merkt, wie sie angestarrt wird. Vielleicht haben sie auch wirklich Angst vor ihr. Andere sind auch sehr neugierig und fragen Maren übermäßig aus, greifen ihr auf den Kopf, schauen sie und ihre Mama mitleidig an, das ist Maren auch nicht viel lieber. 

Maren geht noch in die Volksschule, vierte Klasse und es ist eine sogenannte inklusive Klasse, das heißt, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam den Unterricht besuchen. Behinderung ist ein weiter Begriff: Raphael zum Beispiel kann mit seinen 10 Jahren immer noch nicht sehr gut lesen, außerdem quatscht er ständig während des Unterrichts und lacht ohne Grund laut auf, dafür ist er im Turnen, wenn Fußball gespielt wird, immer ganz vorne mit dabei und kann wirklich schnell laufen, auch wenn er den Ball nicht immer trifft, und Philip redet im Gegensatz zu Raphael so gut wie gar nicht, er sitzt meistens still da und knetet auf seinem Stofftuch herum, das er ständig bei sich trägt, und Manuel ist oft laut und grob, auch zu sich. 

Maren mag ihre Klasse und sie freut sich jeden Tag darauf in die Schule zu gehen, auch wenn sie auch viele Schwächen hat, wie sie selber weiß, besonders Rechnen fällt ihr schwer. Aber Maren singt gerne und es gibt ein Morgenritual in ihrer Klassen, da singen dann alle gemeinsam ein Begrüßungslied. 

Maren würde irgendwann gerne auch Lehrerin werden, weiß aber schon, dass das für sie schwierig wird, denn eine Lehrerin muss wirklich alles wissen und können, wie Marens Mama ihr erklärt hat, und Maren traut sich zwar viel zu, aber das klingt dann doch zuviel. Ihre Mama hat ihr versprochen, dass sie über Alternativen nachdenken, was Maren noch alles werden kann, welchen richtigen Beruf sie haben kann, denn für Maren ist eine Horrorvorstellung irgendwann mal in einer Werkstätte zu landen. 

Man muss wissen, auch Maren ist behindert, auch wenn sich Maren nicht behindert fühlt, denn sie kann so gut wie alles machen, aber irgendwas ist in ihrem Körper anders als bei anderen Menschen. Maren weiß, dass sie mehr Chromosome als andere hat, sie weiß nicht, was das ist, sie kann es noch nicht mal aussprechen, aber so ein Chromosom stellt sie sich wie eine weiße Kugel vor, mit einer weichen Schale. Maren ist anders, aber Maren findet, an ihr ist nichts auszusetzen. Maren kennt sich auch nur so. Wenn sie in den Spiegel schaut, sieht sie Maren, sich, sieht sich, wie sie sich immer schon gesehen hat: Gekämmte Haare, zum Pferdeschwanz gebunden, große Augen und sie lächelt sich an und Maren im Spiegel lächelt zurück, an den Händen trägt sie Nagellack und an den Füßen gerne rosa Schuhe. 

Maren malt gern, Prinzessinnen zum Beispiel, aber auch Autos, kein Widerspruch für Maren, denn die Prinzessinnen müssen schließlich irgendwohin fahren, wie sie sagt. Maren blättert gerne Comic-Bücher oder die Zeitung durch, aus der sie dann manchmal was ausschneidet. Maren sortiert das Obst in der Obstschüssel um, damit die Äpfel keine Druckstellen bekommen, auch das macht sie gerne. Maren hilft beim Backen, beim Abtrocknen, beim Wegräumen, hilft ihrer Familie.  In Momenten ist sie so glücklich, dass ihre Mama sie noch nicht weggeschickt hat, dass Maren sie ganz plötzlich umarmen und fest drücken muss. Es gibt Eltern, die denken, dass sie mit einem Kind wie Maren gestraft sind, das muss Maren nicht wissen, aber sie weiß es. Maren weiß auch, dass während einer Schwangerschaft ein Teil der Untersuchungen nur dazu dienen, zu verhindern, dass mehr Menschen geboren werden, die so wie sie sind. Das ist Maren unverständlich, aber sie versteht schon sehr gut, was da vorgeht. Man will kein Kind, das nicht normal ist, das so wie Maren ist. Papa sagt: Niemand ist normal und wer es doch ist, muss verrückt sein. Grundsätzlich werden Menschen nicht gemocht, die nicht so sind, wie alle anderen, die nicht in diese Welt passen, in der es um Leistung geht, die dem ganzen Druck nicht standhalten können oder wollen. Für Maren ist vieles schwieriger als für andere und gerade wenn man etwas tun muss, bedeutet das für Maren starken Stress.

Das Gefühl, dass sie ständig helfen muss, bekommt sie aber nicht weg. Sie macht sich nützlich, wo sie kann, als ob ihr nur das eine Berechtigung gäbe, zu existieren. Als ob ein Mensch nicht auch einfach nur zum leben geboren wäre.