menschen treffend: gerhard

Langsam balanciert Gerhard noch Mineralwasser, Fruchtsaft und zwei Flaschen Schnaps über die Treppen. Der Kühlschrank ist nun gut gefüllt, im Keller, in seinem ganz persönlichen Kellerlokal. Gerhards Reich. Gebaut als Hobbyprojekt, mit Bar und geräumiger Sitzbank. Alles aus Holz, in großer Kleinarbeit eingepasst in den Raum seines Hauses, der vorher nur als Abstellkammer diente. An den Wänden Spruchtafeln, Urkunden und Glückwunschkarten zur Pension. Und natürlich darf auch die Musikanlage mit Bildschirm nicht fehlen, die theoretisch sogar eine Karaokefunktion hat, in den Ecken Discolichter. Nachdem Gerhard in den Ruhestand ging, war dies sein erstes Projekt, damit ihm nicht langweilig wird. Ein paar mal im Jahr ist das nun der Partykeller, bei dem Familie (Geburtstage), Arbeitskollegen und Freunde (alle zwei Monate, außer im Sommer) eingeladen werden. Gerhards Frau bereitet meist etwas zu essen vor, das dann von Gerhard mit großer Geste aufgetischt wird, denn auch das leibliche Wohl darf nicht zu kurz kommen. Mit all diesen Elementen versammelt, ist der Spaß garantiert, für den man in den Keller muss. 

Spätestens nach drei bis vier Bier und zwei Schnäpsen kocht die Stimmung. Die Sprüche werden lockerer, es wird auch getanzt – sofern Frauen anwesend sind. Meist wird bis weit nach Mitternacht gesellig zusammengesessen, die Zeit vergeht besonders schnell, wenn man sich im Keller trifft.  Aber je später der Abend, desto mehr schweigen die Frauen dann allerdings, gelangweilt und ermüdet vom Gebrüll, von all der Erregung, die sich in diesem privaten Kellerlokal irgendwann garantiert entlädt. Wie war man bloß darauf gekommen? Wie landen Abende stets zielgerichtet bei dem Punkt, wo nur noch gesoffen wird und laut argumentiert. Im Kreis, man bewegt sich sitzend im Kreis, in einem Schwindelzustand. Heute ist es wieder soweit. 

Faulheit scheint ein Problem zu sein, oder es ist zumindest ein Reizwort. Darauf kam gerade das Gespräch, danach die angeregte Diskussion, die mittlerweile ein Streitgespräch ist, das der Alkohol auch anständig befeuert. 

Es regt Gerhard zum Beispiel richtig auf, wenn Leute fürs Nichtstun bezahlt werden oder auch nur Geld haben, obwohl sie keine Arbeit haben, also Arbeitslosengeld bekommen oder Sozialhilfe oder Notstandshilfe. Wie „die Ausländer“, die, wenn sie nicht kriminell sind, unseren Sozialstaat ausnutzen. So ganz verständlich ist es nicht und auch nicht schlüssig, was er von sich gibt, viel auch einfach faktisch unrichtig. In Gerhards Kopf wohnt die Paradoxie von faulen Fremden, die gleichzeitig den Einheimischen die Arbeit wegnehmen, für Gerhard kein Widerspruch. Und niemand sagt was dazu. Man muss schon wollen und dann findet sich auch was, ist Gerhardüberzeugt. Wer also Arbeit sucht, bekommt diese auch, da darf man nicht eitel sein, grundsätzlich ist das Meiste annehmbar. Man kann sich schließlich nicht alles aussuchen und „das Leben sei kein Wunschkonzert“. Eine Formulierung, die an Stumpfheit direkt am „Ernst des Lebens“ anschließt. Toni wollte kurz etwas anmerken, denn er hatte sechs Jahre vor seiner regulären Pensionierung seine Arbeit verloren, und hatte sich dann noch als Zeitungsausträger über Wasser gehalten, was erstens ein Scheißjob war und zweitens seiner Gesundheit nicht zuträglich war. Toni lässt es aber. Schließlich ist Gerhard der Gastgeber und behält ohnehin die Meinungsführerschaft. Toni schaut auf die Uhr, auffällig, der Rest der Runde auch, allerdings unauffällig. 

Gerhard ist gerade bei „Leistung muss sich wieder lohnen“ und „Strafe muss sein“. Die Unterhaltung wird bruchstückhafter und zielloser. Gerhard monologisiert, der Redefluss will nicht abreißen. Die Stimmung ist, wieder mal, im Keller. 

Man muss sagen, dass Gerhard einer Definition von Leben folgt, das gar keine andere Beschreibung duldet als „hart“. Und blickt man so auf ein Leben, dann gilt es ein paar Punkte zu beachten: 1. Man muss stets fleißig sein, 2.Man muss gut auf sich selbst schauen und 3. Man muss sich gleichzeitig aber auch den Verhältnissen fügen. Daran hat sich Gerhard zeitlebens gehalten, ein wenig Ellenbogen war nötig, ansonsten lief aber alles wie geschmiert. 

Gerhard wuchs in eher einfachen, ärmlichen Verhältnissen auf, als eines von fünf Kindern. Sein Vater hatte stets hart (da haben wir es) gearbeitet, starb früh, Herzinfarkt. Gerhard machte eine Lehre zum Tischler, wovon sein handwerkliches Geschick herrührt, das ihm auch heute noch zugute kommt, wobei er mit Anfang Zwanzig die Chance ergriff bei einem internationalen Lebensmittelkonzern als eine Art Manager zu arbeiten, was ihm nicht nur ein gutes Einkommen einbrachte, sondern auch die Möglichkeit, regelmäßig beruflich um die Welt zu fliegen. Er konnte also ohne schwere Arbeit, im stabilen Job im gleichen Unternehmen, mit ausreichend Freizeit, ohne Existenzängste seine Pension erreichen, die nun überdurchschnittlich hoch ausfällt. Hart ist mit dieser Biographie nur eines: die pauschalen Urteile, die er über Menschen fällt. Dennoch konnte Gerhard es sich wieder mal nicht verkneifen, seine Karriere nachzuerzählen, die in seiner Beschreibung klingt, wie die Story vom Tellerwäscher, der zum Millionär wurde. Ganz soweit brachte es Gerhard zwar nicht, aber er konnte sich sein Arbeitsleben lang stets viel leisten. Wenn man in die Runde schaut, merkt man, dass alle schon sehr müde sind, nur will niemand als erster aufstehen und sich verabschieden, fürchtend, dass dann über ihn gesprochen würde. 

Und dann geht es aber schnell, denn dann will Gerhard einen Witz machen, um die Stimmung am Ende des Abends nochmal kurz zu heben. Er sagt: „Arbeit macht frei, oder nicht?“ Niemand lacht. Kurze betretene Stille, schnell aufgelöst durch die Frage, ob jemand noch ein Bier will. Das ist der Moment, wo Toni aufsteht, sich für die Einladung bedankt und sich verabschiedet, denn er will lieber kein Bier mehr. Dem schließen sich auch die restlichen Männer der Runde an, ist ja schließlich doch schon spät und sie sind ja nicht mehr die Jüngsten. 

Als alle weg sind, wirkt der Keller leer und kalt. Die Party ist aus. 

Gerhard sitzt nicht das erste mal allein am Tisch, auf dem die Reste des Abends stehen. Nicht das erste Mal steht vor Gerhard noch ein letztes Bier. In seiner Brust spürt Gerhard plötzlich einen stechenden Schmerz. Schon oft hat er sich vorgenommen, sich nicht mehr so aufzuregen. Er versucht den Verlauf des Abends zu rekapitulieren. Sein Kopf tut ihm auch weh. 

Er denkt in letzter Zeit oft daran, dass sein Leben theoretisch jederzeit vorbeisein könnte. Angesichts dessen, sind all die Gespräche des heutigen Abends lächerlich. Und: Ich sollte noch etwas Sinnvolles mit meinem Leben anfangen, denkt er sich. Vielleicht zum Lebensabend noch eine ehrenamtliche Funktion übernehmen, das ging sich schließlich sein ganzes Leben lang nicht aus. Etwas zurückgeben, murmelt er vor sich hin, und betet … auf dass der Schmerz morgen wieder weg ist. Gerhard leert sein Bier, schaltet das Licht in seinem Kellerlokal aus und geht die Stufen vorsichtig nach oben.  Er wird morgen aufräumen.


menschen treffend: beate

Auch das kann Karriere sein, wenn man mit Mitte Dreißig einen einfachen Job hat, wichtige Aufgaben und einen mindestens ebenso großen Verantwortungsbereich. Nachdem das mit der Schule nicht so klappen wollte, hatte Manuel sich lange mit kleinen Jobs über Wasser gehalten, Beschäftigungen, die er sich selber gesucht hatte, weil er wirklich ungern zum Arbeitsamt ging. Im Fitnesscenter hatte er dann Georg kennengelernt, der ihm eine Anstellung als Türsteher vermittelte. Lange Nächte mit viel Red Bull, aber wenig Stress und wenn die halbstarken Besoffenen doch mal auf Konfrontation aus waren, hatte er das relativ schnell dank seiner imposanten Erscheinung und seiner gleichzeitig ruhigen Art im Griff. Man schätzte ihn. Der Club, bei dem er arbeitete, musste leider irgendwann zusperren, warum, war ihm nicht ganz klar, eigentlich war es ihm nach drei Jahren an „der Tür“ aber auch egal, weil er mittlerweile eine Freundin, und mit ihr einen schon fast eineinhalb Jahre alten Sohn hatte. Ohnehin ergab sich sofort ein neues Angebot bei einer Sicherheitsfirma. Der Bedarf an Sicherheit war in den letzten Jahren gestiegen, in gewisser Weise auch bei Manuel. Die Sicherheitsfirma garantierte ihm eingeteilte Dienste, geregelte Arbeitszeiten, Anspruch auf Urlaub und vor allem, dass er nicht mehr nur in der Nacht arbeiten musste. Es war abwechslungsreich. Er bewachte Messen und Vergnügungsparks, Auf- und Abbauarbeiten, Eröffnungen und Ausstellungen, war bei privaten Partys wie auch offiziellen Veranstaltungen im Einsatz. Seine Arbeit dürfte er sehr zufriedenstellend verrichtet habe, denn eines Tages bekam er ein noch viel besseres Angebot. Er musste sich unter einer Telefonnummer melden, die ihm dann eine Adresse nannte, zu der er fahren sollte. Es war eine Villa am See. Seitdem in den letzten Jahren sämtliche wertvollen Seegrundstücke privatisiert wurden und es offensichtlich zum guten Ton von unfassbar reichen Leuten gehörte, sich eine Immobilie in allerbester Lage zu gönnen, gab es einfach auch den Bedarf diese Domizile gut zu schützen. Die Besitzer des beeindruckend weitläufigen Grundstücks am See, auf dem eine imposant große Villa stand, vertrauten ihm offensichtlich, das heißt, ihre Assistentin, denn die Besitzer hatte er bisher noch nicht getroffen. Er bekam den Job und ein Diensthandy, und aber keine neue Uniform, denn legeres, gepflegtes Auftreten reichte. 

Um 20 Uhr sperrt das Einkaufszentrum zu, gegen 20.30 ist Beate meist zuhause. Dann noch eine kleine Abendjause, Abwasch, Wäsche aufhängen, etwas fernsehen bis Beate dann schlafen geht. Sie kann ausschlafen, immerhin, seit die Kinder erwachsen sind, gibt es vormittags eigentlich nur noch Termine bei Ärzten, der Friseurin und in naher Zukunft wird sie vielleicht auch auf ihren Enkel aufpassen. Die Einkaufsfahrten spart sie sich, das Wichtigste bekommt sie im Einkaufszentrum, wo sie im Supermarkt arbeitet, aber daneben noch eine Bäckerei, ein Handyshop, eine Trafik, eine Apotheke, ein Florist, ein Tiergeschäft, eine Modekette, ein Geschenkeladen existiert, im hintersten Teil gibt es einen Discount-Shop, der ein abstruses Durcheinander von Dingen (Hauptsache billig!) anbietet, und im ersten Stock ist ein Fitnessstudio, aber dort war Beate noch nie. 

Beate sitzt an der Kasse, ihre Berufsbeschreibung heißt wohl Kassiererin, ihre Tätigkeit ist das Kassieren. Sie sitzt dort seit Jahren, nein, mittlerweile sind es Jahrzehnte, in denen sie immer etwas zu beobachten hatte. Neue Marken, die eingeführt wurden, und wieder verschwanden. Schwankende Produktverpackungen und Produktgrößen, überhaupt die Überdimensionierung in Multi-Packs und Family-Packs, die Waren in absurde Dimensionen transformieren. Sie bekam mit, wie Fernsehwerbung das Kaufverhalten beeinflusste, und dass mittlerweile nach Produkten gefragt wird, welche die Kunden in Werbespots auf facebook oder youtube oder bei irgendeiner Serie gesehen haben. 

Selten geworden sind Ladendiebe, entweder weil niemand mehr klaut oder besser geklaut wird, es keine Detektive mehr gibt, die dafür angestellt wären, die Kunden im Auge zu behalten um sie rechtzeitig zu stoppen oder sich Verfolgungsjagden zu liefern; wahrscheinlich rechnet sich das einfach nicht mehr, für alle Seiten. 

Von ihrer Kasse aus, blickt sie direkt auf das Schaufenster des Bekleidungsgeschäfts, mit wechselnden Displays und Designs. 

Zeit, an ihrem Arbeitsplatz längere Momente abzuschweifen, hat sie allerdings nicht, der Kundenstrom reißt nie ab. Wenn das Licht an ihrer Kasse aufleuchtet, dauert es nicht mal zehn Sekunden und Bananen, Semmeln, Energy-Drinks und so weiter landen auf dem Förderband. Ein durchgehender Warenstrom.

Es gab eine Zeit, da waren alle Kassen besetzt, das ist schon lange nicht mehr so, mittlerweile sind es höchstens drei. Leere Plätze wohin das Auge blickt. Der Rest bleibt stets unbesetzt, denn jede Kassiererin hat ihren Stammplatz. Früher war der Andrang größer, es gab auch weniger Supermärkte. Früher waren die Wartezeiten kürzer, es gab auch mehr Kassen. Vielleicht stimmt das auch nicht, das ist nur ihre Wahrnehmung, Beate weiß es nicht mehr.  

Heute ist der Stau von gestressten Menschen, die mit ihren Einkäufen im Arm zu genervten Menschen werden, fast normal. Das ständige „Kassa bitte!“ oder „Könnten Sie nicht endlich eine Kassa aufmachen!!!“ hat Beate zu ignorieren gelernt. Nein, können sie nicht, was soll Beate auch tun können. Auch den Sound von laut ausgestellten Ausatmern der Kundinnen und Kunden, (meist Kunden) die wahrscheinlich kommunizieren sollen, dass jemand gereizt ist, versucht Beate zu ignorieren. Früher waren die Menschen weniger forsch, sie hatten auch mehr Zeit. Teilweise kommt es fast zu handgreiflichen Situationen, Aggression liegt in der Luft, wenn die ältere Dame zu lange braucht, um ihr Kleingeld aus ihrer Geldtasche zu kramen, aber auch, wenn die Bankomatkarte wieder mal nicht funktioniert oder der Code vergessen wurde. All das passiert ständig. Normalität im Alltag von Beate, Verzögerungen im Tagesablauf der Kundinnen.

Heute wird zumindest Obst und Gemüse wieder an der kAsse abgewogen. Beate kann sich auch noch an die Zeit erinnern, die mühsame Zeit, an der die Kunden selbst ihre Ware abwogen, als allerdings dann oft das Gewicht oder der Artikel nicht stimmte, nicht stimmen konnte, und bei Nachfrage dann für beide Seiten eine unangenehme Situation entstand, weil man der alten Dame schließlich nicht vorwerfen wollte, dass sie die teureren Bananen eingepackt hat, allerdings die günstigeren auf dem Etikett standen, oder unzählige Male am Tag eine Kundin – ebenso unangenehm -den Bezahlvorgang abbrechen musste, weil sie wieder zurück zur Waage zu laufen hatte, manchmal übernahm das eine Kollegin, für die Kundin auch eine Demütigung. Auf jeden Fall wird jetzt wieder an der Kasse abgewogen. Kontrolle ist besser. Eigentlich ist es Beate auch egal. Es ist kaum verständlich, warum ständige Aufregung produziert wird, nur weil die Kunden, die davor oft gemütlich durch den Supermarkt geschlendert sind und ihre Produkte bedacht ausgewählt haben, an der Kasse dann diesen Stress entwickeln. Freundliche Gesichter, verständnisvolle Gesichter wechseln sich ab mit trüben, nervösen Gestalten, die meist nicht in der Lage sind, zu grüßen. Die auch nichts wissen wollen von aktuellen Angeboten oder dem Bonusclub, der ihren Einkauf um einiges günstiger machen könnte. Oder sie würden das Clubheft gratis bekommen, mit schmackhaften Rezepten, Tipps und Gutscheinen. Beate könnte ihnen auch sagen, wo sie am besten die Rabattsticker anbringen sollten, die sie doch mittels Werbesprospekten in ihrem Postkasten haben mussten. Gar nicht so leicht durchschaubar, da braucht man eine Insiderin wie Beate, die ihr Wissen auch gerne teilt, denn es ist ein komplexes System, denn manche Sticker sind nicht mit gewissen Aktionen kombinierbar und oft würde es sich lohnen, einmal eine andere Marke auszuprobieren. Heute wäre zum Beispiel … da wäre was im Angebot. Selber schuld, denkt sich Beate, die Menschen müssten nur mit mir sprechen. 

Seit ein paar Wochen gibt es in ihrem Supermarkt den Versuch mit Self-Service-Kassen, die Kunden und Kundinnen können, wenn sie unter zehn Artikel haben, selbst den Bezahlvorgang abwickeln, das soll alles ein wenig beschleunigen. Irgendwann wird das ihren Arbeitsplatz ersetzen, bis es soweit sein wird, ist sie allerdings wahrscheinlich schon in Pension. Klappt bislang nicht wirklich, eine Praktikantin steht an den SB-Kassen und kontrolliert den Bezahlvorgang und hilft den Kunden, die auch dort unmotiviert und frustriert wirken. Keine vier Meter weiter sitzt Beate und freut sich Frau Taupe begrüßen zu dürfen. Beate hatte die Pensionistin schon längere Zeit nicht gesehen und sich schon Sorgen um ihre Gesundheit gemacht, aber da steht sie – und kauft das Übliche ein und lustigerweise erstmals einen Smoothie.

menschen treffend: manuel

Auch das kann Karriere sein, wenn man mit Mitte Dreißig einen einfachen Job hat, wichtige Aufgaben und einen mindestens ebenso großen Verantwortungsbereich. Nachdem das mit der Schule nicht so klappen wollte, hatte Manuel sich lange mit kleinen Jobs über Wasser gehalten, Beschäftigungen, die er sich selber gesucht hatte, weil er wirklich ungern zum Arbeitsamt ging. Im Fitnesscenter hatte er dann Georg kennengelernt, der ihm eine Anstellung als Türsteher vermittelte. Lange Nächte mit viel Red Bull, aber wenig Stress und wenn die halbstarken Besoffenen doch mal auf Konfrontation aus waren, hatte er das relativ schnell dank seiner imposanten Erscheinung und seiner gleichzeitig ruhigen Art im Griff. Man schätzte ihn. Der Club, bei dem er arbeitete, musste leider irgendwann zusperren, warum, war ihm nicht ganz klar, eigentlich war es ihm nach drei Jahren an „der Tür“ aber auch egal, weil er mittlerweile eine Freundin, und mit ihr einen schon fast eineinhalb Jahre alten Sohn hatte. Ohnehin ergab sich sofort ein neues Angebot bei einer Sicherheitsfirma. Der Bedarf an Sicherheit war in den letzten Jahren gestiegen, in gewisser Weise auch bei Manuel. Die Sicherheitsfirma garantierte ihm eingeteilte Dienste, geregelte Arbeitszeiten, Anspruch auf Urlaub und vor allem, dass er nicht mehr nur in der Nacht arbeiten musste. Es war abwechslungsreich. Er bewachte Messen und Vergnügungsparks, Auf- und Abbauarbeiten, Eröffnungen und Ausstellungen, war bei privaten Partys wie auch offiziellen Veranstaltungen im Einsatz. Seine Arbeit dürfte er sehr zufriedenstellend verrichtet habe, denn eines Tages bekam er ein noch viel besseres Angebot. Er musste sich unter einer Telefonnummer melden, die ihm dann eine Adresse nannte, zu der er fahren sollte. Es war eine Villa am See. Seitdem in den letzten Jahren sämtliche wertvollen Seegrundstücke privatisiert wurden und es offensichtlich zum guten Ton von unfassbar reichen Leuten gehörte, sich eine Immobilie in allerbester Lage zu gönnen, gab es einfach auch den Bedarf diese Domizile gut zu schützen. Die Besitzer des beeindruckend weitläufigen Grundstücks am See, auf dem eine imposant große Villa stand, vertrauten ihm offensichtlich, das heißt, ihre Assistentin, denn die Besitzer hatte er bisher noch nicht getroffen. Er bekam den Job und ein Diensthandy, und aber keine neue Uniform, denn legeres, gepflegtes Auftreten reichte. 

Seine Aufgaben umfassten nicht viel mehr als in Abwesenheit der Besitzer auf die Liegenschaft aufzupassen, also zu gewissen Zeiten musste er anwesend sein, musste Gärtner oder Putzfrauen hinein- und auch wieder raus zu lassen, hatte zu überprüfen, ob alles in Ordnung ist, sicherzustellen, dass kein Unbefugter vonseiten der Strasse oder des Wassers das Grundstück betritt. Die meiste Zeit scrollte auf seinem Smartphone durch die Facebook-Timeline oder löste Rätselseiten der Zeitungen, oft saß er auch einfach nur da und blickte auf das Wasser. Bisher hatte es noch keine nennenswerten Vorfälle gegeben, nur einmal kam eine Gruppe mit ihrem Schlauchboot dem Grundstück zu nah und machte Fotos.  Das ist völlig inakzeptabel, muss doch die Privatsphäre auch dann geschützt bleiben, wenn niemand anwesend ist. 

Es war ihm verboten – außer in absoluten Ausnahmefällen – die Schlafzimmer der Besitzer zu betreten, Lebensmittel aus dem Kühlschrank in der Küche zu nehmen und es war ihm auch strengstens untersagt, über seinen Einsatzbereich zu sprechen und verständlicherweise durfte er keinesfalls Fotos machen. Manuel hielt sich daran, vor allem aber, weil er davon überzeugt war, dass versteckte Überwachungskameras installiert sind, dass auch er als Bewacher nochmal überwacht wird. Letzlich ist jeder ein potentielles Sicherheitsrisiko und man kann niemandem absolut vertrauen. 

Die Besitzer hatten offensichtlich mit der Angst zu tun. Klar, wenn man Wohnungen und Häuser an prominenter Stelle an mehreren Orten der Welt hat, ist das nicht nur ein Genuss sondern vor allem auch eine Belastung.

Manuel beneidete sie nicht. Dagegen waren seine Ängste überschaubar, dachte er, waren nie wirkliche Ängste sondern Sorgen, Geldsorgen meistens. Aber die Bezahlung stimmte aktuell, vor allem, wenn er daran dachte, wie unaufwendig die ihm übertragenen Aufgaben waren. Im Gehalt war ein Bonus für seine Diskretion schon eingerechnet, auch Überstunden würden extra bezahlt werden. 

Wieviele, wie er, in ähnlichen luxuriösen Häusern saßen und wachsam die Zeit totschlugen, wusste er nicht, schließlich durften sie, wie er, nicht über ihre Arbeitsplätze sprechen. Und sie warteten, wie er, insgeheim darauf, dass es doch einen Zwischenfall gäbe, die Alarmanlage endlich mal korrekt anschlagen würde, und sie zumindest das Pfefferspray auspacken könnten. Der Dank der Besitzer wäre ihnen sicher. 

Manuel denkt zur Zeit darüber nach, ob er nicht einen Einbruch erfinden sollte, den er im letzten Moment verhindern haben würde. Bei Einbruch der Dunkelheit wäre eine Bande von Kriminellen über die Mauer, Nein, mittels eines Motorboots aufs Grundstück gelangt, ausgestattet mit professionellem Werkzeug und der klaren Absicht durch eines der Fenster im ersten Stock ins Haus zu gelangen. Rechtzeitig hätte er sie erspäht, die Flutlichter und die Sirenen aktiviert und sie so in die Flucht geschlagen, danach habe er pflichtgemäß die Polizei informiert, die innerhalb von zehn Minuten eingetroffen wären, wobei er auch sogleich ein Tatwerkzeug sichergestellt gehabt hätte und der Polizei übergeben hätte können, und, Nein, aber die Fingerabdrücke ….

Verdammt, man könnte ihm Unachtsamkeit unterstellen oder an seiner Erscheinung zweifeln. Und außerdem gibt es ja noch die Kameras und wer weiß, welche Maßnahmen die Besitzer noch ergriffen hatten, um ihren Besitz zu schützen. Sein Plan ist noch nicht ausreichend durchdacht, das weiß er selbst, aber während Manuel aufs Wasser schaut, spielt er ihn immer und immer wieder durch, er will sich schließlich nicht langweilen.

menschen treffend: andreas

Wie war er bloß auf dieses Podium geraten? Grundsätzlich wusste Andreas es natürlich, aber war die falsche Entscheidung, dass ausgerechnet er bei dieser Veranstaltung teilnehmen musste. Er war nicht zuständig, er war nie zuständig gewesen und trotzdem war er nun anwesend. Mehr nicht. Weißer Leinenanzug, darunter ein leichtes Hemd, die obersten Knöpfe offen, am Rever ein Anstecker seiner Partei. Das hatte er für diesen Abend ausgewählt, sich noch im Dienstwagen umständlich umgezogen. Der Stuhl unter ihm: Thonet-Nachbau, fühlte sich unbequem an. Die tatsächlich Zuständigen hatten sich auf wichtige Termine ausreden können und deswegen musste er einspringen. Er bereute, sich nicht ebenso energisch gegen die Teilnahme gestellt zu haben, denn er war – verdammt nochmal – eben keinesfalls verantwortlich, nicht mal kompetent, aber das würde er so nie sagen. 

Vor ihm saß, mit ein einigen leeren Stuhlreihen Abstand, ein Querschnitt aus Bürgern und Bürgerinnen. Aus den Gesichtern konnte er eine Skala von interessiert erwartungsvoll bis aggressiv enttäuscht lesen. 

Er wusste es ja selbst, dass es scheiße gelaufen war. Man hätte das Projekt von Anfang an anders aufziehen müssen, man hätte nicht das angefangene Projekt der letzten Landesregierung in dieser Art übernehmen dürfen. Zu Recht wird die mangelnde Kommunikation und die schwammige Planung angesprochen. Aber er sitzt nunmal hier um den Status Quo zu verteidigen, irgendwie, so gut es geht, denn alle Informationen zum Projekt hatte er auch nicht, nur ein paar Unterlagen. Und natürlich hörte er beim Eingangsstatement gut zu, aber irgendwann waren die Informationen verschwommen und er konnte nur noch einen Brei an Schlagworten wahrnehmen, klang eh ganz gut. Also ausbaufähig und ambitioniert, aber das hat schon Potential, wird schon, dachte er. Das notierte er sich, oder vielmehr notierte er sich die Schlagworte: Ambitioniert, mutig, zukunftsweisend. Das war ihm so eingefallen. Gerade war da noch der Satz, der fast sloganhaft war oder zumindest ein Sprichwort, irgendwie was mit „Man muss es wagen, um ..“ Nein, es fiel ihm einfach nicht mehr ein. Er machte einen unauffälligen Blick auf seine Uhr. Erst 27 Minuten waren vergangen. Zu gerne hätte er auf sein iPhone geschaut und auf Twitter herumgescrollt, aber das verbat er sich. Ganz unvermittelt kam ein Gähnen in ihm auf. „Ich bin einfach scheiß müde“, dachte er sich. Und richtete sein Jackett. Viel lieber wäre er daheim auf seinem Sofa gesessen oder noch etwas essen gegangen oder würde einfach schon schlafen.

Er wusste, es würde heute zu keiner Verständigung, keiner zufriedenstellenden Lösung oder auch nur Erklärung kommen. Er hasste solche Termine. Hier würde es keine schönen Bilder geben, keine Dankesworte zu sagen, kein Raum für Ansprachen, nichts, einfach nur Gerede und sogenannte Wortmeldungen. Warum muss man auch immer herumdiskutieren?! Das Projekt war am Weg und auch der Verlauf des Abends würde daran nichts ändern. Er schlief fast ein, man kann sagen, er war gelangweilt.

„Bürgerbeteiligung ist ja schon ein schlimmer Versuch sich greifbar zu geben, aber wenn dann auch noch hysterisierte, selbsternannte Betroffene vor einem sitzen… das ist wirklich zu kotzen“, verselbstständigten sich seine Gedanken. Und er musste leicht auflachen. „Burgerbeteiligung. Ein Burger wär jetzt großartig“.

Er riss sich wieder zusammen. Immer noch Rumoren im Saal, Anspannung, Fragen, Antworten, Stimmen. „Oder eine Bratwurst. Senf. Eine Semmel. Bier. Das hätte ich mir verdient.“ Sein Gesicht performte in diesem Augenblick interessiertes Zuhören, es wurde lauter. Die Stimmung war aufgeheizt, dementsprechend war auch die Temperatur im Raum. Das Wasser, das man ihm hingestellt hatte, war leider lauwarm gewesen, er hatte es trotzdem ausgetrunken, schon vor dreissig Minuten und offensichtlich würde sich niemand darum kümmern, dass er ein neues bekommt. Gerne hätte er ein Bier, oder besser ein Glas Wein und ein Glas Wasser, also hätte er aufstehen und zur Bar gehen oder er vom Podium herab darum bitten müssen – oder einfach darauf verzichten. „Gibt es eigentlich einen Hinterausgang? Wie schaue ich unauffällig auf die Uhr? Und wann ist es Zeit auffällig auf die Uhr zu schauen, um zu signalisieren, dass man jetzt doch endlich mal zum Ende kommen könne.“, lief es in seinem Kopf.

Dabei versank er immer weiter in seinem Sessel. Anfangs war das am Stuhl zu rutschen noch ein unbewusster Akt gewesen, er war einfach sehr unbequem, Andreas hatte sich immer wieder aufgerichtet, aber mittlerweile war es ihm egal. Er hatte keine Lust mehr, er hatte sie nie. Er war völlig in sich zusammengefallen. Und dieses Bild konnte ruhig so rezipiert werden.

Er schaute in dieser verkrümmten Haltung in die Gesichter im Publikum und er verachtete jedes einzelne, aber er durfte es nicht zeigen, denn jeder von ihnen war ein potentieller Wähler. Dass er so dachte, seine aggressive Stimmung tat ihm gleichzeitig leid. Der Tag war schon lang gewesen, voll mit Treffen, Sitzungen, E-Mails und Anrufen, und letzte Nacht hatte er schlecht geschlafen. Das interessierte hier niemanden. Er wollte sich nochmal bemühen, Verständnis zu entwickeln und dies auch dementsprechend zu formulieren, aber man hörte ihm nicht zu. Eigentlich war auch dieser Abend scheiße gelaufen, insofern passte die Stimmung perfekt zum Projekt. Die letzten zehn Minuten der Veranstaltung verwendete er, um darüber nachzudenken, wie er hier gelandet war, also wie sein Weg vom engagierten, jungen Parteimitglied zum Berufspolitiker war, und an welchem Punkt die Zwänge angefangen haben und sein Zynismus eingesetzt und er die Verbindung zu den Sorgen der Menschen verloren hat. Für einen Moment wünschte er sich, wieder so mutig denken zu können, wie in seiner Jugend. Dann dachte er wieder daran, wo man noch was zu essen bekommen könnte, denn es war spät, alles hatte schon geschlossen. 

menschen treffend: wolfgang

Es ist ein routinierter Ablauf. Um 8:30 Uhr kommt er in der Firma an, Parken am Mitarbeiterparkplatz, die paar Schritte zum Hintereingang, wo er die ersten Raucher begrüßt, über die Stiegen in den ersten Stock, zum Kaffeeautomat (Verlängerter, aktuell: € 1,-), dann nochmal zum Hintereingang um auch noch eine Zigarette zu rauchen. Ein paar Worte über das Wetter werden gewechselt, dann ein paar Sätze zur Familie, Nachfrage, wie es den Kindern geht. Zigarette austöten, wieder in den ersten Stock, kurz vor 9:00 Uhr, einstempeln, kurze Nachfrage im Büro, ob heute irgendwas Besonderes ansteht., dann wieder ins Erdgeschoss und von dort mit dem Lastenaufzug ins oberste Geschoss. Licht einschalten, die Neonröhren beginnen zu surren. Aus dem Dunkel erscheinen die vielen hohen Regale. Möbel.

Das ist das Reich von Wolfgang. Er kennt hier jeden Winkel, unter dem Dach, ohne Fenster, wo es etwas staubig ist, was sich nicht vermeiden lässt, wo aber eine absolut Ordnung herrscht, herrschen muss. Im Gang neben dem Lastenaufzug hat er Seit mittlerweile 27 Jahren arbeitet er in diesem Möbelhaus, das an diesem Ort seit über 50 Jahren existiert. Es ist keines dieser riesigen Möbelhäuser sondern ist seit über 50 Jahren unverändet groß, auch wenn durch diverse Umbauten in den Jahren Platz immer mehr opitimiert wurde. Wolfgang hat noch 4 Jahre bis zur Pension, eventuell weniger, wenn sein Rücken tatsächlich nicht mehr mitspielen sollte. 

Lagerarbeiter, Lagerleiter, Lagerlogistiker – so verlief sein Aufstieg in der Firma, mittlerweile wird er nur noch allgemein als Logistics geführt. Es hat sich viel geändert, manches hat ihm die Arbeit erleichtert, manches ist mittlerweile etwas komplizierter, beides steht im Zusammenhang mit dem Logistik-Computer. Es ist wie mit den Möbelstücken: Sie werden kleinteiliger und gleichzeitig leichter, früher waren sie größer und schwerer, dafür stabiler. „Alles hat seine Vor- und Nachteile“, sagt er immer, und „Qualität ist schwer zu finden und kostet natürlich.“ Das weiß er, eigentlich ist Wolfgang gelernter Tischler, war ein paar Jahre in einer Tischlerei beschäftigt, bis diese zusperren musste und er seine Arbeit verlor. 

Seine Aufgabe nun hier: Menschen kaufen in den Stockwerken darunter ihre Möbel, sobald ein Verkäufer die Rechnung ausdruckt, wird er benachrichtigt und bereitet die Möbel zur Ausgabe vor. Er fährt mit dem Schwerlast-Plattformwagen zum entsprechenden Lagerregal und hebt das oder die Möbelstücke darauf und fährt mit diesen dann möglichst schnell mit dem Lastenaufzug ins Erdgeschoss, in die Lagerhalle an der Ausgaberampe. Oft stehen dort schon die Käufer und händigen ihm im Tausch für die Ware die Rechnung aus. Bis zur Rampe bringt er sie, nur in Ausnahmefällen hilft er auch bei der Beladung ins jeweilige Fahrzeug, bei überforderten Pensionisten beispielsweise, die sich ein neues Kästchen gönnen, das gerade verbilligt im letzten Werbeprospekt beworben war und von dem er noch unzählige Kartons auf Lager hat. Jungväter packen meist selbst gerne und allzu beherzt selbst an der Rampe an, um ihre Kraft zu beweisen, diesen hält er höchstens noch den Schwerlast-Wagen, weil er sonst über die Rampe rollen würde. Alleinstehende Männer kontrollieren meist noch die Pakete oder Möbelstücke auf Beschädigungen, die können natürlich vorkommen, lassen sich aber vermeiden. Unterschrift, Stempel, und schon fährt Wolfgang wieder mit dem Lastenaufzug in den letzte Stock, wo schon die nächsten Aufträge auf ihn warten. Es gibt Tage, wo er gar nicht dazu kommt, mit Heimo, der in der Lagerhalle arbeitet, mehr als einen schnellen Spruch zu wechseln. Er hat zwar einen Helfer, momentan Alex, aber auch mit ihm kommt er kaum zum Reden, Alex arbeitet drei Stunden weniger als Wolfgang und ist seit dem letzten Jahr sein mittlerweile sechster Helfer, da niemand lang bleiben will, und Alex wird in zwei Monaten auch weg sein, weil er einen besseren Job gefunden hat. 

Die Einsamkeit, hier, unter dem Dach, macht Wolfgang eigentlich nichts, früher hat er Zeitung gelesen, zwischenzeitlich hatte er sogar einen kleinen Fernseher, der ihm aber von der Geschäftsführung verboten wurde, mittlerweile drückt er auf seinem Smartphone herum, scrollt durch Nachrichten- oder Sport-Seiten oder googlet Bilder von nackten Frauen. Aber er kommt kaum dazu, auf seinem Telefon herumzuspielen, denn erstens hat er genug zu tun und zweitens ist der Empfang hier, unterm Dach, sehr schlecht.